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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal
Autoren: Marie Hermanson
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    2  Von ihrem Platz am Konferenztisch konnte Gisela Obermann durch das große Panoramafenster direkt auf die senkrechte Felswand an der gegenüberliegenden Seite des Tals schauen. Die Oberfläche war glatt und gelblich weiß wie ein auseinandergefaltetes Blatt Papier mit schwarzen Punkten. Sie ertappte sich dabei, nach Schriftzeichen zu suchen.
    Ganz oben wurde die Felswand von einem Kamm kühner Tannen gekrönt. Einige hatten sich zu weit nach vorne gewagt und hingen über den Rand wie abgebrochene Streichhölzer.
    Die Gesichter um den Konferenztisch verblassten im Gegenlicht, die Stimmen wurden leiser.
    »Gibt es diese Woche irgendwelche Besucher?«, fragte jemand.
    Gisela Obermann war müde und durstig, irgendwie ausgelaugt. Das kam von dem Wein, den sie heute Nacht getrunken hatte. Aber nicht nur vom Wein.
    »Wir haben einen Angehörigenbesuch«, sagte Doktor Fischer. »Für Max.«
    Gisela wurde plötzlich munter.
    »Wer besucht ihn?«, fragte sie erstaunt.
    »Sein Bruder.«
    »Aha. Ich dachte, sie hätten keinen Kontakt.«
    »Das wird ihm sicher guttun«, sagte Hedda Heine. »Das ist sein erster Besuch, seit er hier ist, nicht wahr?«
    »Kann sein.«
    »Ja, das ist sein erster Besuch«, bestätigte Gisela. »Wie nett. Mit Max passiert gerade viel Positives. Ich finde, er wirkte in letzter Zeit sehr harmonisch und gut gelaunt. Es tut ihm sicher gut, wenn er Besuch von seinem Bruder bekommt. Wann kommt er?«
    »Er müsste heute Nachmittag oder Abend ankommen«, sagte Doktor Fischer, schaute auf die Uhr und sammelte seine Papiere ein. »War das alles?«
    Ein rotbärtiger Mann Mitte vierzig winkte eifrig mit der Hand.
    »Brian?«
    »Gibt es was Neues über Mattias Block?«
    »Nein, leider nicht. Aber die Suche geht weiter.«
    Doktor Fischer nahm seine Papiere und erhob sich. Die anderen folgten ihm.
    Typisch, dachte Gisela Obermann. Max' Bruder kommt heute. Und niemand gibt mir, seiner Ärztin, Bescheid.
    Genauso lief es hier. Deswegen war sie so müde. Ihre Energie, mit der sie bisher immer wie ein Messer durch jeden Widerstand hatte schneiden können, war verschwunden. Es war, als prallte sie an Wänden ab und richtete sich schließlich gegen sie selbst.

 
    3  Daniel folgte dem Menschenstrom zum Ausgang des Flughafens, wo eine kleine Schar Taxifahrer handgeschriebene Namensschilder hochhielt. Er ließ den Blick über die Schilder schweifen, zeigte auf eines davon und sagte auf Deutsch:
    »Das bin ich.«
    Der Fahrer nickte und führte ihn zu einem kleinen Bus. Daniel stieg ein, der Fahrer kümmerte sich um das Gepäck.
    »Ist es weit?«, fragte er.
    »Ungefähr drei Stunden. Wir machen unterwegs eine Pause«, sagte der Fahrer und schob die Tür zu.
    Sie verließen Zürich und fuhren an einem großen See entlang, der von waldbedeckten Bergen umgeben war. Daniel hätte den Fahrer gerne gefragt, was man rechts und links des Weges so sah, aber sie waren durch eine Glasscheibe getrennt. Daniel lehnte sich im Sitz zurück und strich sich mit den Fingern durch den Bart.
    Es war nicht allein die brüderliche Fürsorge, die ihn veranlasst hatte, das Angebot zu dieser Reise anzunehmen, das musste er zugeben. Es ging ihm ökonomisch nicht sehr gut. Seine Aushilfsstelle als Lehrer lief zum Herbst aus, wenn die reguläre Lehrerin nach dem Mutterschaftsurlaub wiederkam. Dann würde er sich wieder mit solchen Gelegenheitsjobs und Übersetzungen durchschlagen müssen. Eine Ferienreise konnte er sich diesen Sommer auf keinen Fall leisten. Max' Angebot, die Reise in die Schweiz zu bezahlen, war verlockend. Nach dem Besuch in der Klinik konnte er noch eine Woche in einem kleinen Hotel auf einer Alm bleiben und die Tage mit ein paar gemütlichen Wanderungen in der schönen Landschaft verbringen.
    Ulmen, Eschen und Haselnusssträucher sausten vor dem Autofenster vorbei. Am See lagen hübsche kleine Häuser mit abschüssigen Gärten. Große braune Vögel segelten langsam über die Straße.
     
    In den letzten Jahren hatte Daniel nur wenig Kontakt mit seinem Bruder gehabt. Max lebte im Ausland, erst in London, dann an verschiedenen anderen Orten, wo er, soweit Daniel wusste, irgendwelchen Geschäften nachging. Auch Daniel hatte die ersten Berufsjahre im Ausland verbracht.
    Seit seiner Jugend hatte Max sich auf einer Berg-und-Tal-Bahn aus Erfolgen und Niederlagen befunden, für die er immer selbst verantwortlich war. Seine Projekte entwickelte er mit einem imponierenden Ideenreichtum und einer fast unmenschlichen Energie. Aber
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