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Westwind aus Kasachstan

Westwind aus Kasachstan

Titel: Westwind aus Kasachstan
Autoren: Heinz G. Konsalik
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I. TEIL
    Es war die Zeit der Ernte.
    Der Weizen stand hoch, kräftig und goldgelb in der Sonne. Es schien ein gutes Jahr zu werden, auch wenn das Landwirtschaftsministerium in Moskau düstere Prognosen herausgab. Vielleicht war die Erde in den anderen Sowjetrepubliken nicht so fruchtbar wie der Boden von Nowo Grodnow und die weiten Äcker von Kasachstan. Zwischen Ulan Bator und Moskau lag eine eigene Welt, und die Genossen im Ministerium hatten einen größeren Überblick.
    Zufrieden war jedenfalls Wolfgang Antonowitsch Weberowsky. Er saß auf dem hohen Sitz seines schnaufenden und knatternden Mähdreschers, blickte über die fast unendliche Weite seines Feldes, hatte bei diesem herzergreifenden Anblick in die Hände geklatscht, mit lauter, tiefer Stimme ausgerufen: »Nun wollen wir mal!«, hatte den Motor angelassen und machte sich bereit, den ersten Streifen seines Feldes abzumähen. Zuvor sprach er ein kurzes Dankgebet … das war Tradition seit über zweihundert Jahren, als die Zarin Katharina II. deutsche Bauern an die Wolga gerufen und ihnen Land geschenkt hatte, um es zu kultivieren. Damals beteten die Vorfahren: »Herr im Himmel, gib uns Kraft, die Last des Lebens und die Mühe der Arbeit durchzustehen …« … und später, 1941, als Stalin alle Wolgadeutschen nach Sibirien und Zentralasien zwangsumsiedelte: »Gott, großer Gott, beschütze uns in unserer Not …« Jetzt, nach fast einem halben Jahrhundert Mühen und Erfolg im Kampf gegen die Natur und nach dem Sieg über Hitze, Staub, Dürre und Schneesturm betete man: »Gott im Himmel, wir danken Dir für Deine Hilfe und unser täglich Brot …«
    Auch Wolfgang Antonowitsch betete so, bevor er sich an das Einfahren der reichen Ernte machte. Dann spuckte er symbolisch in beide Hände und umklammerte das vibrierende Lenkrad. Aber er kam nicht dazu, den ersten Weizenstreifen abzumähen – gerade, als er den Fahrhebel hinunterdrücken wollte, stieg auf der gewalzten Feldstraße eine Staubwolke auf. Ein heißer Tag war es, schon jetzt am Morgen. Kein Vogel flatterte durch die Luft, kein Windhauch bewegte die Ähren. Seit Tagen war es so, und der alte Jewgeni Iwanowitsch Potapow, von dem man sagte, er sei 102 Jahre alt und lebe noch ewig, weil er seine inneren Organe mit selbstgebranntem Schnaps konserviere, prophezeite mit seiner Zitterstimme: »Paßt auf, paßt auf, ein Sommer wird's, in dem die Vögel gebraten vom Himmel fallen.«
    Das war natürlich sehr symbolisch ausgedrückt – man hatte schon Trockenjahre erlebt, in denen der Boden bis zu einem halben Meter vor Dürre aufriß … dann fuhr man mit Tankwagen über die Felder und rettete wenigstens das tägliche Brot. Ein Bauer in Kasachstan gibt nie auf! Hart ist er wie die Natur um ihn herum.
    Weberowsky stellte den keuchenden Motor ab und wartete, was sich aus der Staubwolke schälen würde. Der Mähdrescher war sein ganzer Stolz und – wenn man es patriotisch und politisch sieht – ein Sieg des Dorfes Nowo Grodnow über sowjetische Willkür. Vor zwei Jahren war es, als der Betriebsleiter der Sowchose ›Bruderschaft‹, der sich allmächtig vorkommende Genosse Semjon Bogdanowitsch Zirupa, zu Weberowsky mit provozierender Hochnäsigkeit gesagt hatte: »Wolfgang Antonowitsch, dieses Jahr ist eine Ausleihung eines Mähdreschers für Nowo Grodnow unmöglich. Wir sind mit dem Plan zurück. Unmöglich.«
    »Sollen wir das Getreide mit der Hand ausrupfen?« hatte Weberowsky gebrüllt. Er wußte, die Verweigerung war nur eine der vielen Schikanen, mit denen Zirupa die Bauern von Nowo Grodnow drangsalierte. Purer Neid war es. Da die Sowchose ihr Plansoll nie erfüllte und die Äcker in einem erbärmlichen Zustand waren, während die Felder von Nowo Grodnow in voller Pracht standen, ließ Zirupa keine Gelegenheit aus, dem Dorfvorstand Weberowsky zu zeigen, daß er auch nur ein maulzuhaltender Bauer sei und deutscher Abstammung auch noch. So hatte es Zirupa einmal zum offenen Kampf kommen lassen, als Nowo Grodnow ein Frühlingsfest feierte, wie es ihre Vorfahren gefeiert hatten, mit Volkstänzen und schwäbischen Trachten, deutschen Volksliedern und nach deutscher Art selbstgebrautem Bier.
    Zirupa erschien mit einer kleinen Armee von über fünfzig Sowchosearbeitern. Eingeheizt war ihnen schon mit vielen Schlucken Wodka, und so setzten sie sich als geballter Haufen mitten auf den Festplatz und begannen, Kampflieder der Roten Armee zu singen, vor allem jene, die im Krieg dazu aufgefordert hatten, die Deutschen
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