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Westwind aus Kasachstan

Westwind aus Kasachstan

Titel: Westwind aus Kasachstan
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Land, das ein im Sommer fast ausgetrockneter Bach durchzog, und Anton Weberowsky hatte trotzig einen Spaten in die Hand genommen, das Stahlblatt tief in den rissigen Boden gestampft und gesagt: »Und hiermit gründen wir unser Dorf Nowo Grodnow. Kameraden, laßt uns in die Hände spucken.«
    Dann waren sie niedergekniet und hatten gebetet. Gott, hilf uns. Wir geben uns in Deine Hände. Laß uns überleben.
    Vor fünfzig Jahren war das. Da war Michail Sergejewitsch Kiwrin noch nicht geboren. Aber später, schon mit fünf Jahren, prägte sich dem kleinen Jungen ein, was sein Vater immer wieder sagte: »Diese Deutschen! Ihr Führer Adolf Hitler wollte die Welt verändern und hat dabei Deutschland vernichtet. Aber sie, die Wolgavertriebenen, verändern Kasachstan. Aus der Steppe machen sie Gärten! Woher nehmen sie nur den Mut und die Kraft …«
    Nowo Grodnow heute: das schönste Dorf im ganzen Bezirk. »So still, Michail Sergejewitsch?« fragte Weberowsky. »Woran denken Sie?«
    »An Ihren Vater Anton Wilhelmowitsch. Mein Vater hat von ihm erzählt. Sie sind nicht anders als er.«
    »So waren wir immer seit Katharina II.«
    »Ganz klar gefragt: Sie wollen zurück nach Deutschland?«
    »Ganz klar geantwortet: Ja!«
    »Und Ihre Familie?«
    »Das wird sich heute abend zeigen.«
    »Und wenn sie dagegen ist?«
    »Sie wird nicht dagegen sein. Wir haben alle auf diesen Tag gewartet.«
    Kiwrin seufzte tief, schüttelte den Kopf, als begreife er überhaupt nichts mehr, und gab Weberowsky die Hand. »Bis bald bei mir in Atbasar. Sie bekommen noch eine amtliche Vorladung. Ich halte Sie nicht weiter vom Mähen ab. Ihr Feld sieht aus wie ein Gemälde. Wer wird einmal dieses Paradies übernehmen? Wie wird es in drei, vier Jahren aussehen? Mir wird das Herz schwer, Wolfgang Antonowitsch, ja, schwer …«
    Kiwrin wandte sich ab und ging zu seinem Wagen zurück. Bevor er einstieg, winkte er Weberowsky noch einmal zu, wendete dann auf dem staubigen Ackerweg und fuhr in einer gelblichen Staubwolke zurück zur gewalzten Hauptstraße.
    Weberowsky sah ihm nach, und dann saß er noch eine ganze Zeit lang auf dem Sitz des Mähdreschers, blickte über das goldgelbe reife Weizenfeld, sah rechts von sich die Dächer von Nowo Grodnow, seinem schönen Dorf, sah die Spitze der kleinen Kirche mit dem vergoldeten Kreuz darauf und dachte daran, was seit drei Jahren der Pastor Peter Georgowitsch Heinrichinsky in sein sonntägliches Vaterunser einflocht, direkt nach: »Unser täglich Brot gib uns immer.« Dann sagte er: »… und gib uns unsere Heimat wieder.« Das Amen klang dann kräftiger als je.
    Unsere Heimat.
    Was ist Heimat? Das ferne, unbekannte, sehnsuchtverklärte fremde Deutschland, die Heimat der Väter … oder die duftenden Blumengärten, die fruchtbaren Felder, die Rinder und Schweine, die Gemüse- und Kräuterbeete, das schmucke Holzhaus mit dem Kruzifix über der Wohnzimmertür, das Läuten des Glöckchens im Kirchturm und die Volkstänze unter einer breitkronigen Linde? Nowo Grodnow.
    Was ist Heimat?
    »Verdammt! Wir kommen, Deutschland!« rief Weberowsky in seine Zweifel hinein mit lauter, dröhnender Stimme. Dann ließ er den Motor wieder an, senkte die Mähmesser und begann, den ersten Streifen zu mähen.
    Es war die Zeit der Ernte …
    Am Abend, nach dem kräftigen Essen aus mit frischen Kräutern gewürztem Quark und Pellkartoffeln, selbstgebackenem Bauernbrot aus Sauerteig und selbstgeräuchertem Schinken, sagte Weberowsky:
    »Ich habe etwas mit euch zu besprechen. Setzen wir uns drüben auf die Eckbank. Auch du, Mutter. Das Geschirr kannst du später spülen.«
    Erna Emilowna, seine Frau, sah ihn erstaunt an und räumte dabei die Teller zusammen. Sie war eine stämmige Erscheinung, trug ihr noch immer blondes Haar mit einem Knoten im Nacken, und ihr rundes, nur von einigen kleinen Falten durchzogenes Gesicht ließ ahnen, wie hübsch sie einmal als junges Mädchen gewesen war. Die blauen Augen hatten ihr Leuchten nicht verloren, die gleichen Augen, die sie Gottlieb Wolfgangowitsch, dem jüngsten Sohn, vererbt hatte.
    »Ist es so wichtig, Wolferl?« fragte sie.
    Das ›Wolferl‹ hatte sie seit dem ersten Kuß beibehalten, dreiunddreißig Jahre lang, und Weberowsky hatte sich nie dagegen gewehrt, obgleich er den Kosenamen nicht sonderlich mochte. Es macht sie glücklich, mich so zu nennen, hatte er gedacht. Mein Gott, was hat sie in ihrem fünfundfünfzigjährigen Leben geschuftet, auf dem Steppenboden, bis er ein Acker und ein
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