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Westwind aus Kasachstan

Westwind aus Kasachstan

Titel: Westwind aus Kasachstan
Autoren: Heinz G. Konsalik
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nicht mehr laut aus, was er dachte und was seinen wachen Geist beschäftigte. Wenn man ihn nachdrücklich befragte, gab er zur Antwort: »Man sollte gegen alles sein, denn was auf der Welt geschieht, ist zum größten Teil ohne Sinn und Verstand.« Und als am März 1985 der vierundfünfzigjährige Michail Sergejewitsch Gorbatschow zum neuen Kremlführer gewählt wurde und Weberowsky ausrief: »Jetzt wird sich vieles ändern!«, sagte Gottlieb, und alle staunten: »Es wird gefährlich werden. Eine hungernde Kuh, die man plötzlich auf eine satte Weide treibt, wird sich vollfressen, bis sie platzt!« Auch jetzt saß er mit seiner immer abweisenden Miene am Tisch, trank mit einem Schluck seinen Wodka aus und fragte:
    »Was ist denn nun so wichtig, daß wir hier herumsitzen müssen wie die Angeklagten?!«
    »Angeklagte bekommen keinen Wodka!« gab Hermann, sein Bruder, zurück. »Vater wird seine Gründe haben.«
    »Wenn das kein Grund ist –« Weberowsky zog die Wodkaflasche zu sich heran. Gottlieb hatte die Hand ausgestreckt, um nach ihr zu greifen. Er liebte den Schnaps, der seinen Gedanken Auftrieb und Würze gab. »Kiwrin war heute morgen bei mir auf dem Feld.«
    »Das ist wirklich ungewöhnlich.« Hermann lehnte sich auf der Bank zurück. »Der kleine Fürst von Atbasar bemüht sich aufs Land!«
    »Er kam zu mir, um mir eine noch geheime Information zu bringen. Sie geht uns alle an … uns, die zwei Millionen Rußlanddeutschen.«
    »Ich ahne es.« Gottlieb hielt fordernd sein Wodkaglas zu Weberowsky hoch. »Die Perestroika, die Umgestaltung, wie es auf deutsch heißt, hat endlich uns entdeckt. Wohin gestaltet man uns um?«
    »Du siehst den richtigen Weg, aber mit den falschen Gedanken, Gottlieb.« Weberowsky goß das ihm hingehaltene Glas voll. »Gorbatschow will offenbar das Unrecht wiedergutmachen, das Stalin an uns begangen hat. Er will uns eigenes Land an der Wolga geben. Wer das nicht will, kann in die Heimat zurück. Meine Lieben, wir können, wenn wir wollen, Rußland verlassen.«
    »Davon haben wir jahrzehntelang geträumt.« Erna wischte sich über die Augen. Tränen rollten ihr über das Gesicht. Das war alles, was sie jetzt sagen konnte. Sie sah Weberowsky so eindringlich an, als warte sie darauf, daß er in seiner knappen Art sagte: »Morgen packen wir alles zusammen.«
    »Zurück in die Heimat!« Gottlieb umklammerte sein Wodkaglas. Er starrte Vater, Mutter und seine Geschwister an und lachte dann mit einem schrillen Unterton: »Hermann, was ist deine Heimat? Wo bist du geboren?« Er streckte die Hand aus. »Dort … in der Schlafkammer! Eva, wo bist du geboren? Dort, auf dem Küchentisch! Mutter, erinnerst du dich noch? Neunzehn Stunden dauerten die Wehen, und die Hebamme Valentina lgorowa Mojarowskaja rang die Hände, betete und schrie: ›Nimmt mir keiner die Entscheidung ab? Die Mutter oder das Kind … nur einer wird überleben! Wo ist ein Arzt? Ein Arzt? Nur ein Kaiserschnitt kann helfen! Kein Arzt ist da! Der nächste wohnt in Zelinograd! Das sind 240 Werst! Der aus Atbasar kommt zu keinem Deutschen! Erwürgt mich, Genossen! Ich weiß nicht mehr weiter!‹ Und was geschah dann? Du, Vater, hast deine Hände ins heiße Wasser getaucht und dann Mutters Leib so lange geknetet und in ihn hineingeboxt, und dann hast du gebetet und geweint, und Mutter hat geschrien, und die Nachbarn vor der Tür haben sich bekreuzigt … und dann kam der Kopf hervor, und du hast mit blutigen Händen das Kind Zentimeter um Zentimeter herausgezogen, bis es auf den blutgetränkten Handtüchern lag.« Er starrte mit seinen großen blauen Augen seine Schwester an und reckte den Kopf nach vorn. »Wo ist deine Heimat, Eva? Im deutschen Ruhrgebiet oder in Nowo Grodnow? Mich, Vater, brauchst du nicht zu fragen. Als ich begriff, daß ich lebe, sah ich zuerst die Sonnenblumen in unserem Garten. Ich lag in ihrer Mitte und muß gedacht haben: Ist diese Welt schön! Und dann wurde diese Welt weiter, größer und herrlicher, und ich spielte mit unserem Hund, der Boris hieß und den ich Bobo nannte und der immer um mich war und mit dem ich groß wurde. Und diese wunderschöne Welt hieß Nowo Grodnow und nicht Hamburg oder Köln oder München oder Hannover oder Stuttgart. Fragst du jetzt noch: Wo ist deine Heimat?«
    »So siehst du es, Gottlieb.« Weberowsky hatte die Hände gefaltet, um ihr Zittern zu verbergen. »Niemand in Kasachstan hat uns Wolgadeutsche geliebt. Wir waren immer Außenseiter. Beneidet um unsere Dörfer und
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