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Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition)
Autoren: Barbara Slawig
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ANNIKA
    Sie war vor zehn Tagen bei uns. Am späten Vormittag stand sie in Westerkoog an der Tür zur Werkstatt. Ich kam gerade aus Tönning zurück, mit alten Zeitungen im Laderaum und Holz von einem der Bauern. Ich bog auf unser Grundstück ein und bremste vor dem Haus, und da stand sie. Jung, schlank, mittelgroß. Braune Haare, Jeans, dunkle Wachsjacke. Ich hielt sie für eine Touristin.
    Ich stieg aus, öffnete die Hecktür und hob das Bündel Zeitungen heraus. Die Frau beobachtete mich. Als ich zu ihr hinüberging, trat sie einen Schritt beiseite und sagte: »Hej.«
    Ich war verdreckt und nicht in der Stimmung für muntere Verkaufsgespräche, aber Maike und ich können es uns nicht leisten, eine Kundin wegzuschicken. Also lächelte ich ihr zu, setzte das Zeitungsbündel ab und schloss auf.
    »Kommen Sie rein, sehen Sie sich schon mal um. Ich bin gleich so weit.«
    Als ich die Zeitungen an der Rückwand des Raums gestapelt hatte und mich umdrehte, stand sie zwar in der Werkstatt, aber immer noch dicht bei der Tür. Ich ging wieder nach draußen und zog den Sack Kleinholz von der Ladefläche – eine Zugabe des Bauern, der wie jedermann in Eiderstedt weiß, dass Adrian fort ist. Das übrige Holz war unzerkleinert, nur in Blöcke gesägt; ich würde es später mit der Schubkarre zum Holzplatz schaffen müssen. Jetzt schlug ich die Hecktür zu, trug den Sack nach drinnen und schüttete das Brennholz in den Korb. Dann richtete ich mich auf und klopfte mir den Staub von den Händen.
    Sie stand noch immer an derselben Stelle. Ohne sich etwas anzusehen. Ich dachte, sie wäre zu schüchtern, oder zu durchgefroren, es war ein kalter, nebliger Tag. Also schloss ich die Tür und schaltete das Licht ein, dann hockte ich mich vor den Ofen, knüllte Zeitungspapier zusammen und machte Feuer, obwohl es sich eigentlich nicht lohnte: Maike betreute den Laden in Sankt Peter, und ich musste spätestens in einer Stunde für Nina Mittagessen kochen. Aber ich wollte höflich sein. Vielleicht würde die Frau dann doch etwas kaufen, eine von Maikes Keramikschüsseln, einen meiner Leuchttürme aus Pappmaché.
    Sie beobachtete mich. Schweigend und wachsam. Ich ging zum Waschbecken, wusch mir die Hände, nahm das Handtuch vom Haken und trocknete mich ab, und die ganze Zeit spürte ich ihren Blick in meinem Rücken.
    »Ist Adrian da?«
    Ich drehte mich um und sah sie an, und sie verwandelte sich vor meinen Augen. Das schmale Gesicht, die geraden Brauen. Dieser direkte, abwägende Blick. Auch die Art, wie sie dastand – so still, und trotzdem sprungbereit. Wie vor zweiundzwanzig Jahren. Als ich neunzehn war und sie sechs. Damals brauchte sie keine zwei Stunden, um mich in die Flucht zu schlagen.
    Dhanavati.
    »Nein«, sagte ich. Es klang sehr laut in der stillen Werkstatt, und sie runzelte die Stirn, als wollte sie mich gleich fragen, weshalb ich so aggressiv sei.
    »Wann kommt er wieder?«
    Ich öffnete den Mund, um sie anzuschreien – und da begriff ich, was ihre Fragen bedeuteten.
    »Soll das heißen, du weißt nicht, wo er ist?«
    Danach war es still. Sehr lange. Ich kann diese Stille immer noch hören, ich muss nur die Augen schließen, schon ist sie da. Der Wasserhahn tropft. Feuchtigkeit zischelt aus dem Holz im Ofen.
    »Er ist weg«, sagte ich schließlich. »Er ist seit drei Monaten auf der Suche nach dir.«
    Ich hängte das Handtuch an den Haken, sehr sorgfältig. Ich bot ihr Kaffee an, füllte Wasser in den Kocher, schaltete ihn ein. Ich legte Holz nach, blieb dann vor dem Ofen stehen und hielt die Hände in die Wärme. Dhanavati sah mir zu. Sie wartete wohl darauf, dass ich etwas sagte. Mir fiel nichts ein. Der Wasserkocher fing an zu summen. Dann stand plötzlich Nina in der Tür, die Schultasche in der Hand, und rief: »Sport fällt aus! Kann Jennifer bei uns essen?«
    Und die Welt setzte sich in Bewegung. Ich sagte: »Ja, klar«, winkte Jennifer zu, die draußen wartete, und fragte Nina, wie der Englischtest gelaufen war. Nina verzog das Gesicht und musste plötzlich dringend aufs Klo. Ich rief ihr nach, dass wir in einer halben Stunde essen würden. Dann sah ich Dhanavati an und bemerkte, dass sie noch immer Nina hinterherstarrte wie einem Geist. Ja, dachte ich, ja, du hast richtig geraten. Das ist Adrians Tochter.
    Sie drehte sich zu mir um.
    »Das war Nina«, sagte ich. »Ich heiße Annika. Wir sind uns schon mal begegnet, das ist allerdings lange her. Du kannst mit uns essen, wenn du willst. Aber nur, wenn du Adrian nicht
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