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Die Gabe der Magie

Die Gabe der Magie

Titel: Die Gabe der Magie
Autoren: Kathleen Duey
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1
     
    SCHARF SCHNITT MICAH DER ATEM DURCH DIE
LUNGEN. SEINE FÜSSE WAREN VOM SCHLAMM UND SCHMUTZ der Straße
bedeckt. Er rannte an den Kühen mit ihren achatfarbenen Augen vorbei, die
zwischen den Apfelbaumreihen der River Road weideten, und dann am Stadtrand
weiter. Schließlich kletterte er über Mattie Hans Zaun. Seine Beine wurden
schwer, als er die Abkürzung zwischen Matties strohgedecktem Haus und ihrem Gemüsegarten
hindurch nahm. Mit schmerzender Brust lief er den Hügel hinab zum Marktplatz;
der abfallende Hang beschleunigte seine Schritte, und er ließ es zu, obwohl er
sich kaum noch aufrecht halten konnte. Jeder einzelne Schritt war ein
taumelndes Ringen darum, nicht mit dem Kopf voran zu Boden zu fallen. Auf der High Street schließlich drossel te er sein Tempo und blieb mit einem letzten Stolpern
stehen.
    Micah stützte seine Hände auf die Knie, um
leichter atmen zu können, und suchte mit den Augen die dicht gedrängte
Menschenmenge zu seinen Füßen ab. Es war Markttag, und es musste sich heute
eine Magierin unter diesen Leuten befinden. Nun, das war beinahe immer so, und
manchmal waren es sogar zwei oder drei. Micah blinzelte, in seinen Augen hatten
sich Tränen und Schweiß gesammelt. Mit der geballten Faust wischte er sich
darüber.
    Dort vielleicht?
    Er richtete sich auf
und starrte angestrengt in die Men ge. Hinter dem Durcheinander von Wagen und Karren auf dem Weidegras
hinter den Ställen entdeckte er auf den zweiten Blick einen schwarzen Umhang,
und so setzte er sich wieder in Bewegung, den Abhang hinunter, der die High
Street von der Market Street trennte, und rutschte die letzten Meter zur Straße
abwärts. Ein Pferd vor einem der Karren scheute, und ein blau gekleideter Zigeuner
schrie und hob seine tätowierte Faust. Micah rappelte sich wieder auf und
rannte weiter, geradewegs hinein in das Labyrinth von Zelten und Ständen der
Bauern. Er drängte sich an Buden voller
Früchte vorbei und an Frau en, die Stoffballen in leuchtenden Farben verkauften.
    Die Magierin hatte eine kleine
Menschenmenge um sich versammelt. Micah bahnte sich seinen Weg zu ihr hindurch,
und der Klang seines eigenen, angestrengten Atems in seinen Ohren überdeckte
die Stimme, mit der sie zu den Leuten sprach, die sich um sie geschart hatten.
Sie hielt eine tiefblaue Phiole in die Luft gestreckt, sodass alle sie sehen
konnten. Micah schob sich durch die Menge, bis er vor ihr stand und auf die
Zeichnung einer Heilpflanze mit dünnen Stängeln auf einem Papieretikett starren
konnte.
    »Meine Mutter …«,
stieß er hervor, dann versagte sei ne Stimme, und seine Brust hob und senkte sich angestrengt. »Meine
Mu…«
    Die alte Magierin warf ihm einen Blick zu.
»Sei still!«
    »Sie müssen … Sie müssen …« Wieder brach
Micah ab. Er hatte schreien wollen, doch nur ein Flüstern war herausgekommen.
Schließlich hob er sein Gesicht und formte die Worte: »Bitte. Kommen Sie.
Bitte.«
    Die alte Frau lächelte. »Wenn ich hier
fertig bin. Diese braven Leute wollen meine Heilmittel kaufen.«
    »Nein, nein, Sie
müssen sofort kommen«, drängte Mi cah, der seine Stimme wiedergefunden hatte. Die Magierin würdigte
ihn keines Blickes. Sie hatte die blaue Flasche wieder gehoben und sprach über
seinen Kopf hinweg. Er packte ihren Ärmel. Verärgert schüttelte sie seinen
Griff ab und machte einen Schritt zurück, wobei sie die Flasche fallen ließ.
Sie zerschellte auf dem Kopfsteinpflaster. Micah starrte auf die blauen Glasscherben. Nur der Verschluss war unversehrt geblieben
und kreisel te träge. Er hob seinen Blick. Drohend stand die Magierin
über ihn gebeugt, die Hand in der Luft. Micah zuckte zurück und hob den Arm, um
sein Gesicht zu schützen.
    »Was machen Sie denn da? Dieser Junge
braucht Hilfe!«, rief eine Frau. »Können Sie das denn nicht sehen?« Micah hörte
weitere verärgerte Stimmen. Mit einem Schlag wurden die Züge im Gesicht der Magierin
weicher, und sie tätschelte Micahs Wange. Dann packte sie mit festem Griff
seine Hand, beugte sich vor und zischte: »Ein weiteres Wort, und ich werde
nicht mitkommen. Hast du das gehört?« Er nickte und blickte auf ihre Hand, die
auf seiner lag. Für den Rest seines Lebens würde er sich daran erinnern, an
ihre gelben Fingernägel mit den schwarzen Rändern – kleine dreckige Halbmonde.

2
     
    ALS ICH ELF JAHRE ALT WAR, BESCHLOSS MEIN
VATER, MICH LOSZUWERDEN. ICH GLAUBE NICHT, DASS ES IHN auch nur im Geringsten kümmerte, ob ich am Leben blieb oder nicht
– er
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