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Die Gabe der Magie

Die Gabe der Magie

Titel: Die Gabe der Magie
Autoren: Kathleen Duey
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wollte mich einfach nur aus den Augen haben. An jenem Morgen warteten wir
auf die Kutsche, und ich starrte Richtung Westen durch den Nebel, der von der
Flussmündung aufstieg. Dahinter, jenseits des Watts und der Marschen, in denen
das Wasser stand – auf der anderen Seite in den Elendsvierteln des South Ends
von Limori –, waren die Nachtfackeln bereits gelöscht worden.
    Sobald der beißende
Gestank, der in den Augen brann te, verflogen war, würden sich die Bettler auf
den Gehwe gen zu drängen beginnen, aber zu diesem Zeitpunkt würden auch
die Hunde der Ladenbesitzer von der Leine gelassen werden. Die meisten waren
halbe Wölfe. Und alle bekamen zu wenig zu fressen. In manchen Nächten, wenn ich
wusste, dass mein Vater zornig genug war, um mir wehzutun, kletterte ich auf
den Baum vor meinem Fenster, um aufs Dach zu gelangen. Von dort aus konnte ich
sie bellen hören. Hin und wieder hörte ich auch jemanden schreien. Das jagte
mir immer einen Schauer über den Rücken – wie nur konnten Menschen dort leben?
Einmal stieg Aben mit mir hinauf aufs Dach. Nicht, um sich vor unserem Vater zu
verstecken, sondern aus Abenteuerlust. Mein Bruder
musste sich niemals verstecken.
    »Hahp?« Ich drehte mich um. Meine Mutter
lächelte düster und schmallippig. Sie hielt sich kerzengerade und bewegte sich
mit übertriebener, fließender Anmut, und ihr Gesicht war ausdruckslos, was
bedeutete, dass sie sich entsetzliche Sorgen um mich machte. Und dass sie sich
vor meinem Vater fürchtete.
    »Geht es dir gut?«, fragte sie, und es war
beinahe ein Flüstern, als würde der bloße Klang ihrer Stimme ausreichen, um den
Zorn meines Vaters zu erregen. Er stand abgewandt da, aber ich sah an der Art,
wie er seine Schultern anspannte, dass sie gut daran tat, vorsichtig zu sein.
Er war nicht weit von einem seiner Wutanfälle entfernt. Ich nickte, dann sah
ich an ihr vorbei zum Haus. Wenn die Geschichten stimmten, dann würde ich es
vielleicht nie wiedersehen.
    Das weit ausladende Ziegeldach streckte
sich in alle Richtungen und überspannte die drei Flügel des alten Hauses, und
alle Traufen waren im Nebel verschwunden. Es war eine ganz eigene Welt, dieses
Dach, und ich kannte jeden Zentimeter davon, jeden zerbrochenen Ziegel, jedes
Stückchen rutschigen Mooses. Ich würde den vergänglichen Geruch der nassen
Steine im Regen vermissen. Die Kiefern am anderen Ende des Grundstücks wirkten
graugrün im Licht des frühen Morgens. Auch sie würde ich vermissen. Ich hatte
oft dort gespielt. Mein Vater lenkte seine Schritte nur selten in diese
Richtung.
    Eine Laterne brannte in einem Fenster im Dienstbotenflügel.
Ich zählte. Es war das fünfte Fenster vom Turm aus –
    Celia war wach. Sie stand immer früh auf.
Dann sang sie leise, beinahe unablässig, während sie das Feuer schürte, Teig
knetete, Kräuter zerkleinerte und Teigtaschen buk. Und niemand machte bessere
Pfannkuchen als sie. Niemand gab mir je ein solches Gefühl der Sicherheit. Mein
ganzes Leben lang ließ sie mich in der Küche unter dem steinernen Backtisch
Zuflucht finden. Meine Mutter war abweisend ihr gegenüber und fand immer etwas
an ihrer Arbeit auszusetzen, aber ich liebte sie.
    Ich nahm eine winzige Bewegung hinter dem
einfachen Vorhang wahr. Celia kleidete sich an. Errötend wandte ich mich ab.
Die Kieselsteine auf dem Kutschweg knirschten unter meinen Stiefeln, und mein Vater
sah mich an. Ich starrte hinaus aufs Wasser, als bemerkte ich nichts. Ich war daran
gewöhnt, Celia und ihre Kochkünste zu vermissen. Ich war daran gewöhnt, in
Schulen abgeschoben zu werden. Normalerweise mochte ich das. Es gefiel mir,
weit entfernt von meinem Vater zu leben. Aber dieses Mal war es anders.
    »Die Kutsche ist bereit, Sir!«
    Der Ruf des Stallburschen ließ mich
aufblicken. Natürlich war an diesem Morgen der weiße Hengst angespannt worden
und trug Geschirrriemen aus schwarzem Leder. Er zog eine Kutsche, die ich noch
nie zuvor gesehen hatte. Silberne Weinreben wanden sich über das dunkle Holz;
die Blätter und Dornen waren in allen Einzelheiten ausgearbeitet und glänzend
poliert. Ich warf meinem Vater einen Blick zu. War diese Kutsche extra für
diesen Anlass angefertigt worden? Wie lange schon hatte er davon gewusst?
    Ich sah, wie der
Kutscher den Hals des Ponys tätschel te. Gabardino behandelte die Tiere sanft, und ich war froh
darüber. Ich hatte das weiße Fohlen geliebt, hatte ihm oft dabei zugesehen, wie
es mit den anderen Frühjahrsfohlen über die Weide gejagt war.
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