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Die Gabe der Magie

Die Gabe der Magie

Titel: Die Gabe der Magie
Autoren: Kathleen Duey
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werden
einige deiner Freunde …«
    »Sei still, Anna«, schnitt ihr mein Vater
das Wort ab.
    Ich sah sie erröten und wusste, dass sie
den Tränen nah war. Wie gerne hätte ich ihr die üblichen Dinge gesagt, dass es
mir gut gehen würde, dass ich Briefe schreiben würde, dass ich sie beim
Winterfest sehen würde. Aber so würde es nicht sein.
    Ich lockerte meinen Kragen ein wenig und wischte
meine Handflächen an der Hose ab. Dann starrte ich auf den dunklen Fels, der
den halben Himmel ausfüllte, als wir näher kamen. Gabardino lenkte das Pony
hinunter. In der Mitte des Abhangs konnte ich den Vorsprung des Eingangs
erkennen, die riesigen Türen und die uralten Stufen, die in das Gestein
geschlagen worden waren. Die Zeit hatte sie rund geschliffen, und sie waren nun
mit Moos bewachsen. Im Zickzackmuster wanden sie sich über den steilen Felsen.
Auf halber Höhe konnte ich einen Jungen sehen. Ich konnte mir nicht vorstellen,
wie das sein mochte, diese Stufen zu erklimmen. Aber ich wusste, dass die Boten
das jeden Tag taten.
    Dann wandte ich den Blick wieder vom
Felsen weg und sah zurück zur Stadt. Das Kupferdach des Versammlungshauses der
Eridianer auf der anderen Seite des Flusses glänzte orange- und rosafarben im
frühen Licht. Die Fenster von Ferrin Hill funkelten wie Diamanten. Ich stellte
mir vor, wie ich aufstand, mich langsam über den Rand der Kutsche beugte,
Stückchen für Stückchen, und so tat, als würde ich mir etwas anschauen. Dann
würde ich den unsichtbaren Punkt überschreiten und das Gleichgewicht verlieren.
Mein Körper würde die Entscheidung treffen. Aber ich würde vorsichtig sein müssen.
Wenn ich zu langsam wäre, würde mein Vater mich aufhalten. Wenn ich mit einem
Satz fiele, würde meine Mutter nie daran glauben können, dass es ein Unfall
gewesen war. Würde ich das fertigbringen? Wäre ich auf der Stelle tot? War die
Kutsche noch hoch genug in der Luft dafür?
    Ich wünschte, ich könnte meinen Vater
danach fragen.
    Er würde es wissen.
    Er wusste, verdammt noch mal, alles.
    »Hahp. Setz dich wieder«, drängte meine
Mutter, und ohne nachzudenken, gehorchte ich.
    So war das also.
    Ich war ein Feigling.

5
     
    WIRST DU HEUTE IM STALL ARBEITEN?« PAPAS
STIMME WAR KLANGLOS UND SCHWER VOR MÜDIGKEIT.
    Micah nickte, aß mit der einen Hand und
hielt in der anderen einen Wulst von Sadimas Nachthemd. Sie saß rittlings auf
seinem rechten Bein und sah ihm dabei zu, wie
er einen Kanten vom harten, braunen Brot verdrück te. Wenigstens hatte
sie aufgehört zu schreien. Es gab kaum noch etwas zu essen, und sie waren alle
hungrig. Er zerzauste ihr das feine rote Haar.
    »Bist du sicher?«, fragte ihn sein Vater
mit bitterer Stimme und rollte seine Schlafdecke auf dem Boden zusammen.
    Micah nickte noch einmal. »Werde ich«,
sagte er, obwohl sein Mund noch voller Brot war. »Sie wird bald eingeschlafen
sein.« Sadima klopfte auf seine Brust und griff nach dem Brot. Micah brach ein
Stückchen ab, auf dem sie herumkauen konnte.
    Papa stand an der Tür. »Pass auf, dass sie
es nicht fallen lässt. Dreh den letzten Käselaib um und sieh zu, dass er nicht
schimmelt, sonst kommen wir bis zur Aussaat nicht über die Runden.«
    Micah sagte nichts. Nur selten noch sprach
sein Vater so viele Worte am Stück, und auch wenn sie barsch geklungen hatten,
war doch alles besser als die Stille oder sein aufflammender Zorn, den Micah
nun so häufig erlebte. Die Tür quietschte und schloss sich dann scheppernd. Er
lauschte auf den unsicheren Schritt seines Vaters, als dieser über die
Holzveranda davonging. Papa hatte sich im letzten Jahr beim Pflügen das Knie verdreht
und den ganzen Sommer über damit zu tun gehabt.
    Micah hatte sein Bestes gegeben, aber die
Ernte war mager gewesen. Er hatte es geschafft, die Saat auszubringen, indem er
eine Schlinge über seiner Schulter trug, die sein Vater genäht hatte und in der
er Sadima mit sich herumtragen konnte. In diesem Jahr war sie dafür schon zu
alt und zu schwer, und sie zappelte wie ein Fisch, wenn sie hinunterwollte. Als
sie im Garten am Haus arbeiteten, hatten sie es mit einem geflochtenen Weidengatter
versucht, das mit Decken ausgelegt war. Aber Sadima hatte geschrien und
geweint, und sie hatten es beide nicht übers Herz gebracht, sie trotzdem so
eingesperrt zu lassen. Mattie Han hatte helfen wollen. Papa jedoch war zu stolz
gewesen, um irgendetwas von seinen Nachbarn anzunehmen.
Keiner von ihnen hatte gewusst, dass Mi cahs Vater verletzt war, und
jetzt war
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