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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst
Autoren: Robert Seethaler
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lief aus dem Haus.
    Draußen schneite es inzwischen. Dicht an dicht trudelten die dicken, weichen Flocken vom tiefschwarzen Himmel und versanken lautlos im Boden. Hinter mir ging die Tür auf und Max kam
heraus. Sein Gesicht glühte vom Punsch und von der Wärme im Zimmer.
    »Wo willst du hin?«, fragte er.
    Ich zuckte mit den Schultern. Er überlegte einen Moment lang, dann drehte er sich um und verschwand im Haus. Es dauerte bloß ein paar Sekunden, und er war wieder da. Er hatte sich
ebenfalls eine Jacke angezogen und eine Schnapsflasche besorgt. Auf dem Kopf trug er eine Pelzmütze mit riesigen Ohrenklappen.
    »Wir können los!«, sagte er.

EIN WELTALL UNTERM KITTEL
    Die Straßen waren wie ausgestorben. Kein Mensch wollte sich bei so einem Wetter freiwillig draußen herumtreiben. Die Stadtrandbewohner hockten lieber zu Hause auf
ihren behaglichen Sofas, stopften Chips und Tiefkühlsachen in sich hinein, kippten dazu wahlweise jede Menge Bier oder Likör runter und starrten in die Glotze. Sahen den Film, in dem ich
nicht mitgespielt hatte.
    Wir gingen schweigend nebeneinander her. Nur unsere knarrenden Schritte, Max’ leises Schnaufen und das Gluckern unserer Flaschen waren zu hören. Hin und wieder blieben wir stehen und
genehmigten uns einen Schluck. Das Zeug roch nach Pferdestall und schmeckte auch so. Aber es hielt warm. Manchmal rollte ein Auto vorüber, kaum zu hören auf der verschneiten Fahrbahn. An
einem Fenster saß neben einer flackernden Kerze ein vollbärtiger Glatzkopf und stierte regungslos zu uns ins Schneetreiben hinaus. Ein paar Jungs liefen vorbei, schwenkten Bierflaschen,
bewarfen sich mit Schneebällen, die so locker und weich waren, dass sie noch in der Luft auseinanderfielen, lachten, grölten, verschwanden wieder.
    Eine ganze Weile gingen wir an einer Mauer entlang, bis wir vor einem hohen Tor haltmachten. Das Tor war aus Gusseisen, ein breiter, hoher Bogen, kunstvoll verschnörkelt und verziert,
ähnlich dem Tor im Hermann-Conradi-Schulhof, nur dass zwischen den Stäben kleine, dicke Engel verschweißt waren. Wir kannten dieses Tor. Unsere beiden Mütter waren hier vor
mehr oder weniger kurzer Zeit durchgetragen worden. Weiß der Teufel, warum uns der Weg ausgerechnet zum städtischen Friedhof geführt hatte.
    Max nahm einen Schluck vom Schnaps, rülpste laut, wischte sich mit dem Ärmel übers Kinn und steckte die Flasche wieder ein. Dann begann er zu klettern. Unerwartet schnell und
geschickt stieg und zog er sich hoch, hievte seinen Körper über die gusseisernen Lanzenspitzen, sprang auf der anderen Seite wieder hinunter, landete mit federnden Knien auf beiden Beinen
und sah mich herausfordernd an. Bei mir dauerte es länger. Das Metall war so kalt, dass meine Finger daran kleben blieben. An den eisglatten Engelköpfchen fanden die Füße kaum
Halt, ich rutschte ab, baumelte für einen Moment mit einer Hand am Tor, strampelte kurz, zog mich wieder hoch und kletterte vorsichtig weiter. Ganz oben schlitzte mir eine der Spitzen die Hose
auf, direkt an der Nahtstelle über dem zarten Pochen meiner Eier. Schließlich aber hatte ich es geschafft und plumpste auf der anderen Seite herunter. Max nickte mir ernst zu, drehte
sich um und ging. Das Grab seiner Mutter lag ganz hinten am anderen Ende des Friedhofes. Ich sah, wie er den langen Weg zwischen den Grabsteinen entlangging und wie sich seine Gestalt im dichter
werdenden Flockengewirbel immer mehr auflöste, bis sie schließlich ganz verschwunden war.
    Ich ging in die entgegengesetzte Richtung. Der Weg war von einer hohen Schneeschicht bedeckt. Die Fußstapfen des Tages waren längst verschwunden. Nur hie und da waren die
Abdrücke einer Amsel zu erkennen, ein zartes Getrippel in dem ganzen bläulichen Weiß. Eine weiche Stille lag über dem Friedhof. Sogar das Geräusch meiner eigenen Schritte
wurde vom Schnee fast verschluckt. Bäume, Hecken und Büsche schienen sich unter der Last zu ducken. Ab und zu glitzerte ein Eiszapfen aus der Dunkelheit zwischen den starren Ästen
hervor. Die Grabsteine hatten ihre Konturen verloren und ragten wie kleine Hügel aus dem Boden. Ein steinerner Engel mit einer schiefen Schneehaube auf dem Kopf starrte ausdruckslos zu mir
rüber. Ich bog in einen schmalen Seitenweg und folgte ihm bis ganz nach hinten an die Friedhofsmauer. Das Grab meiner Mutter war im Sommer leicht zu finden. Vater hatte rundherum jede Menge
Grünzeug gepflanzt, und seit ein paar Jahren war es zusätzlich von
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