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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst
Autoren: Robert Seethaler
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angeschlagene Straßenbahner räumten ein paar Tische weg und fingen an ihre bleiernen Gliedmaßen zum Takt der Musik herumzuschlenkern. Die Dicke im Blümchenkleid bewegte sich
aus ihrer Sitzecke, setzte sich dem Kerl mit den Tränensäcken auf den Schoß und wollte knutschen. Eine traurig überschminkte Frührentnerin bestellte Eierlikör
für alle, woraufhin ein riesenhafter Kerl in blauem Arbeitsoverall und gelben Gummistiefeln unter dem lautem Beifall der anderen mit zwei Runden Klare Pflaume konterte.
    James stieg jetzt von Swing auf Romantik um. Tief bewegende Melodien, ergreifend, herzerschütternd. Sofort machte sich Sentimentalität breit. Die Stimmen senkten sich mit den
Köpfen. Die Augen wurden feucht. Die Gedanken wanderten in längst vergangene Zeiten, als die Hoffnungen noch größer waren als die Niederlagen. Die beiden Straßenbahner
wiegten sich in enger Umarmung, die bärtigen Wangen aneinandergedrückt, durch den Raum, während der riesige Gummistiefelträger mit Tränen in den Augen durch die dichten
Rauchschwaden in eine unbekannte Ferne stierte.
    Mittlerweile fühlte ich mich etwas schwammig im Kopf. Ich sah mich nach Max um. Er saß in einer Ecke und war in ein Gespräch mit einem kummervollen Wollmützenträger
vertieft. Es ging um Frauen. Die beiden waren sich einig, dass das Leben im Grunde genommen nur einen einzigen erstrebenswerten Sinn hatte: sich haltlos in den Schoß eines Weibes zu
schmeißen. Wie wunderbar ist doch das Weib! Heimat und Fremde! Heiligtum und Sünde! Max schwärmte von dieser Stelle, von dieser glatten, weichen, weißen Stelle etwas zehn
Fingerbreit unter dem Nabel, an der sich – beispielsweise beim nächtlichen Nacktbaden im städtischen Rinnsal – die hauchzarten Härchen aufstellen. Und
dazwischen das Glitzern eines einzelnen Wassertropfens, der sich mit einem leichten Zittern vom Nabelrand löst und ganz langsam über die sanfte Wölbung hinunterrollt, um
schließlich in der geheimnisvoll duftenden Glückseligkeit dort unten zu verschwinden.
    »Oder einfach nur vögeln!«, schrie die Wollmütze und kippte begeistert mit ihrem Stuhl nach hinten.
    Da die Toilette mittlerweile unbenutzbar geworden war, gingen Max und ich zum Pissen ins Freie. Arm in Arm standen wir schwankend da und versuchten aus drei Metern Entfernung das alte Schlagloch
vor der Tür zu füllen.
    »Oh ja!«, sagte Max mit geschlossenen Augen und einem verklärten Lächeln im vom Mond sanft beschienenen Gesicht. »Oh ja!«
    Drinnen hatte der Abend mittlerweile das Stadium der Auflösung erreicht. Wenn die Schleusen erst einmal offen sind, gibt es kein Zurück mehr. Man kann sich dagegen wehren und sinnlos
gegen die Strömung anstrampeln, oder man kann aufgeben und sich einfach treiben lassen im herrlichen, hochprozentigen Überfluss. Man wird ersaufen, und man weiß es. Untergehen mit
einem letzten Juchzer. Versinken im grund- und bodenlosen Rausch. Und James Lasts glitzerndes Showorchester bläst einem die Abschiedsmelodie dazu.
    Niemand strampelte, niemand wehrte sich mehr. Diejenigen, die ihre Zunge noch einigermaßen unter Kontrolle hatten, redeten, debattierten, lallten und grölten weiter. Der Rest blieb
stumm, versuchte aber trotzdem nicht den Anschluss zu verlieren. Weitere Runden wurden ausgegeben, und die Zeit dazwischen wurde mit Sologetränken gefüllt. Einer der hartnäckigsten
Thekenschweiger erhob sich plötzlich von seinem Hocker und fing zur großen Überraschung aller an, mit großen, abgehackten Gesten und schwerfällig rollenden Augen von
seinem Leben zu schwadronieren. Seine Zunge war schwer wie ein rohes Hüftsteak und schien seine Mundhöhle komplett auszufüllen. Sein Redeschwall klang wie ein schlammiger Erdrutsch
aus dem sich nur manchmal ein paar verständliche Brocken lösten. Es hörte sowieso niemand zu. Die meisten waren mit sich selber beschäftigt, manche waren eingeschlafen oder
hatten in einem lichten Augenblick der Vernunft den Ausgang gefunden und waren nach Hause getorkelt. Die dicke Blümchenfrau lag schnarchend auf dem Tränensack, dessen Blick starr gegen
die Decke und in die weiten Gegenden darüber gerichtet war. Ein kleiner Kerl, dessen Hände komplett mit schmutzig-gelblichen Verbänden umwickelt waren, verschwand immer wieder auf
die Toilette, kam aber jedes Mal gleich darauf zurück, blieb für einen Augenblick schwankend stehen und sah sich erstaunt im Schankraum um, als hätte er ihn in diesem Moment zum
ersten Mal betreten.
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