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Jenseits von Gut und Böse

Jenseits von Gut und Böse

Titel: Jenseits von Gut und Böse
Autoren: Michael Schmidt-Salomon
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Vergebens symbolisiert.
    So steht das R von REACH für das Wort recall (zurückrufen): Auf dieser ersten Stufe geht es darum, sich das schmerzliche Ereignis möglichst sachlich ins Gedächtnis zurückzurufen. Was genau ist wann und wie passiert? Wichtig ist bei der Visualisierung der Geschehnisse, dass man nicht in Selbstmitleid ertrinkt und es vermeidet, die Täter als moralisch böse abzustempeln. Man sollte sich vielmehr darum bemühen, die Geschehnisse so nüchtern zu beschreiben, wie sie in einem Tatprotokoll der Polizei erfasst würden.
    Der Buchstabe E in REACH steht für empathy (Empathie, Mitgefühl): Dies ist für viele wahrscheinlich der schwierigste Schritt, denn hier gilt es, die Tat aus dem Blickwinkel des Täters zu betrachten. Was brachte ihn dazu, uns das anzutun? Was empfand er dabei? War er durch die Situation, in der er steckte, vielleicht überfordert? Was hatte er zuvor erlebt, dass er sich so verhalten musste? (Als hilfreich hat sich in diesem Zusammenhang die »Zwei-Stühle-Technik« herausgestellt: Man setzt sich zunächst auf Stuhl A, der die eigene Opferposition symbolisiert. Hier hat man die Gelegenheit, dem Täter all die Vorwürfe zu machen, die einen bewegen. Anschließend setzt man sich auf Stuhl B, nimmt die Rolle des Täters ein und versucht aus seiner Position heraus zu erklären, warum es zu dieser Tat gekommen ist.)
    Der dritte Buchstabe, A, steht für altruism (Altruismus): Hier geht es darum, dem Täter ganz bewusst das Geschenk der Vergebung zu machen. Dies verlangt, dass man den oft tief sitzenden Rachedurst tatsächlich überwunden hat. Nur unter dieser Voraussetzung kann man wirklich vergeben und auch jenes Gefühl der Befreiung erleben, das damit einhergeht.
    Der vierte Buchstabe, C, steht für commit (sich festlegen): Bei diesem Schritt soll das Geschenk des Vergebens eine vertragsähnliche Verbindlichkeit erhalten. »In Worthingtons Gruppen«, erklärt der renommierte amerikanische Psychologe Martin Seligman, »setzen die Klienten ein ›Zertifikat der Vergebung‹ auf, schreiben einen Verzeihungsbrief an den Täter, schreiben ihn ab in ihr Tagebuch, schreiben darüber ein Gedicht oder ein Lied oder erzählen einem guten Freund, was sie getan haben.« 14
    Dieser Schritt, so Seligman, sei vor allem im Hinblick auf die Nachhaltigkeit der Vergebungserfahrung wichtig, den letzten Schritt von REACH, denn das H steht für hold on to forgiveness (Festhalten an der Vergebung): Da die Erinnerungen an die Tat wahrscheinlich wiederkehren werden, empfiehlt Worthington, sich die Dokumente, die man im Prozess des Vergebens erstellt hat (etwa das »Zertifikat für Vergebung«) wieder vor Augen zu führen und notfalls den REACH-Prozess noch einmal komplett zu durchlaufen.
    Auch wenn REACH, wie Martin Seligman zugibt, zunächst wie eine »Sonntagspredigt« klingt, so ist der Erfolg der Methode doch mittlerweile durch zahlreiche Evaluationsstudien wissenschaftlich belegt: »In der bis heute größten und besten Studie hat eine Gruppe von Forschern an der Stanford University unter der Leitung von Carl Thoresen 259   Erwachsene nach Zufall in zwei Gruppen unterteilt. Sie haben jeweils neun Stunden … entweder an einem Workshop für Vergebung oder an einer reinen Eignungsprüfung (Assessment) teilgenommen … Die Folgen (in der Vergebungsgruppe, MSS) waren weniger Wut, weniger Stress, sehr viel mehr Optimismus, bessere (berichtete) Gesundheit und mehr Vergebung.« 15
    In den USA hat in den letzten Jahren ein regelrechter Boom in der Vergebungsforschung stattgefunden. 16 Die Ergebnisse der empirischen Studien sind recht eindeutig: Wer vergeben kann, der empfindet im Durchschnitt weniger negativen Stress, hat ein besseres Immunsystem, kann traumatische Ereignisse produktiver verarbeiten, leidet seltener unter Herz-Kreislauf-Erkrankungen, lebt länger und fühlt sich insgesamt wohler in seiner Haut als derjenige, der sich schwer damit tut, anderen zu verzeihen. Kurzum: Wer sich dazu überwinden kann, anderen zu vergeben, der tut sich damit selbst den größten Gefallen – ein Ergebnis, das bestens mit der im ersten Kapitel getroffenen Feststellung zum empathischen Eigennutz korrespondiert, wonach jeder Helfer in erster Linie sich selbst hilft.
    Wenn aber Vergebung einen so nachhaltigen Einfluss auf die psychische und physische Gesundheit hat 17 , warum wird dies – zumindest in Westeuropa – so selten thematisiert? Im Zuge der Recherche für dieses Kapitel stellte ich fest, dass fast alle
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