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Jenseits von Gut und Böse

Jenseits von Gut und Böse

Titel: Jenseits von Gut und Böse
Autoren: Michael Schmidt-Salomon
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Behindertenwerkstatt zusammensetzen würde. Ein anderes häusliches Milieu oder andere Peergroups hätten dazu führen können, dass dieses Ich heute als Schwerverbrecher im Gefängnis säße. Wäre dieses Ich in einem Township unter dem Apartheidsregime aufgewachsen, wäre es möglicherweise an der Ermordung von Amy Biehl beteiligt gewesen. Und wäre es Anfang des 20. Jahrhunderts in eine deutschnationale Familie hineingeboren worden, hätte es sich vielleicht sogar zu einem eiskalten Nazischergen entwickelt.
    Sich selbst als »guten Menschen« zu betrachten und von oben herab mit moralischer Abscheu über »die bösen Kriminellen« zu richten, ist Ausdruck dummer Selbstgerechtigkeit. Wer von sich selbst mit dem Brustton der Überzeugung behauptet, er hätte sich niemals wie Ntobeko Peni und Easy Nofemela verhalten und Unschuldige ermordet, der vergisst dabei, dass er 1993 unter den Bedingungen des Townships schlichtweg nicht derselbe gewesen wäre, der er heute ist. Hat man diese Zusammenhänge erst einmal durchschaut, so wird man der moralischen Selbstgefälligkeit nichts mehr abgewinnen können – und dies ist die beste Voraussetzung dafür, um die Kunst der Vergebung praktizieren zu können.
    Fest steht: Wer sich von der moralischen Fiktion befreit hat, dass sich eine Person zum Zeitpunkt ihrer Tat anders hätte verhalten können, als sie sich verhielt (Prinzip der alternativen Möglichkeiten), dem fällt es leichter, zu verzeihen. Warum? Weil er unter dieser Voraussetzung den Schaden, den er erlitten hat, als Ausdruck eines natürlichen Übels begreift und nicht als moralisches Übel , was, wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, einen weit geringeren Grad der Verbitterung nach sich zieht.
    Der Tod eines geliebten Menschen ist immer eine schreckliche Erfahrung, doch es macht sehr wohl einen Unterschied aus, ob man diesen Tod auf eine Naturkausalität (Krankheit oder Naturkatastrophe) zurückführt oder auf eine angeblich freie Willensentscheidung, die traditionelle Sichtweise von Mord und Totschlag. Wenn man die Fiktion der freien Willensentscheidung aufhebt und die Ermordung einer Person mit natürlichen Determinanten erklärt (etwa mit den neuronalen Aktivitäten im Gehirn des Täters zum Zeitpunkt der Tat), so erhält dieser Mord gewissermaßen den Status einer Naturkausalität. Der Schmerz über den Verlust der geliebten Person wird dadurch zwar nicht geringer, doch immerhin wird verhindert, dass dieser Schmerz zusätzlich noch verstärkt wird durch das Gift der moralischen Empörung.
    So weit, so gut. Jedoch: Wenn wir davon ausgehen, dass die Argumentation wider das Prinzip der alternativen Möglichkeiten richtig ist, müssten hieraus nicht auch nachhaltige Konsequenzen für das Rechtssystem erwachsen? Kann es legitim sein, einen Menschen für eine Tat zu verurteilen, gegen die er sich zum Tatzeitpunkt gar nicht entscheiden konnte?
    Werfen wir zur Beantwortung dieser Fragen einen Blick auf die gesellschaftlichen Folgen, die aus dem Paradigma der Unschuld erwachsen …

ZU GUTER LETZT
 
    Unsere gemeinsame Reise ist nun an ihrem Ende angelangt. Sie führte uns von Adam und Eva bis zu Eichmann, von den Protozellen der Ursuppe über die Terrorzellen von al-Qaida bis hin zu den Folterzellen in Abu Ghraib. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, dass Sie so viel Geduld mit mir hatten in meinem Bemühen, ein wenig Ordnung ins Chaos der Memplexe zu bringen.
    Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Im Grunde bin ich trotz aller Unzulänglichkeiten, die dieses Buch zweifellos hat, mit der Reise, die wir unternommen haben, zufrieden. Ich habe den Eindruck, dass es gelungen ist, zu belegen, dass das Paradigma der Unschuld dem Sündenfall-Syndrom sowohl in theoretischer wie auch praktischer Hinsicht überlegen ist. Im Moment kann ich es mir deshalb auch nur sehr schwer vorstellen, dass eine zeitgemäße Weltanschauung, ein »evolutionärer Humanismus« auf der Höhe der Zeit, auf einem anderen Menschenbild fußen könnte.
    Allerdings kann ich mich hierin natürlich irren. Die subjektive Überzeugung, dass etwas richtig sei, bedeutet bekanntlich noch lange nicht, dass es auch tatsächlich richtig ist. Auch Adolf Hitler, Josef Stalin, Papst Innozenz III. oder Mohammed Atta waren subjektiv von der Richtigkeit ihrer Annahmen überzeugt. Also seien Sie bitte vorsichtig: Gehen Sie mit den Aussagen des vorliegenden Buches unbedingt kritisch um! Es enthält ganz gewiss nicht »die Wahrheit«, sondern bloß eine Ansammlung von
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