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Jenseits von Gut und Böse

Jenseits von Gut und Böse

Titel: Jenseits von Gut und Böse
Autoren: Michael Schmidt-Salomon
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erzeugt → die basale Wirkung W1«). Man kann diesen Sachverhalt noch etwas deutlicher ausdrücken, indem man die spezifische Richtung der Mikrodetermination berücksichtigt: Ohne U1 → W1 auf niederer Integrationsebene (etwa der Biologie) gäbe es kein U1* → W1* auf emergenter Ebene (etwa der Kultur). U1* → W1* kann also auf U1 → W1 zurückgeführt werden. Nur weil dies so ist, haben reduktionistische Erklärungen ihre Berechtigung.
    In »Jenseits von Gut und Böse« gibt es zahlreiche Formulierungen, die sich dieses wissenschaftlich eleganten, reduktionistischen Denkmusters bedienen. Ich zitiere zur Illustration eine Passage aus dem zweiten Kapitel des Buchs: »Das, was uns als Personen auszeichnet, was wir denken, wie wir empfinden, was wir lieben und verachten, was uns erfreut und abschreckt, was wir können und was uns beim besten Willen nicht gelingt etc. – all dies ist bestimmt von neuronalen Prozessen, die unter unserer Schädeldecke ablaufen, ohne dass wir dies (außerhalb eines neurologischen Labors) wahrzunehmen vermögen. (…) Wir müssen uns daher wohl oder übel damit abfinden, dass Gedanken, für die es keine Hirnschaltmuster gibt, nicht gedacht und Emotionen, die neuronal nicht abgedeckt sind, nicht empfunden werden können.«
    Man erkennt an dieser Stelle deutlich das oben erläuterte reduktionistische Erklärungsmuster: Emergente Phänomene wie Gedanken und Emotionen (die ihrerseits emergente Wirkungen, nämlich menschliche Handlungen, verursachen) werden zurückgeführt auf Ursachen-Wirkungs-Verhältnisse auf niederer Integrationsebene, nämlich der biochemischen Erregung und Verschaltung von Neuronen.
    Die Frage allerdings ist, ob damit schon alles geklärt ist: Ist das reduktionistische Deutungsmuster, das in den Wissenschaften so fruchtbar genutzt wird, wirklich hinreichend , um sämtliche Phänomene in der Welt zu erfassen? Lassen sich komplexe Empfindungen und Gedankengänge tatsächlich vollständig auf biologische, chemische oder gar physikalische Prozesse zurückführen? Kurzum: Ist U1* → W1* (etwa ein Gedanke, der zu einer neuen Einsicht führt) wirklich nichts anderes als U1 → W1 (etwa eine neuronale Aktivität, die ein neues Muster von Hirnschaltkreisen bewirkt)?
Makrodetermination: Das evolutionäre Selektionsprinzip
    Ich meine, dass die Akzeptanz des Prinzips der Mikrodetermination uns keineswegs dazu veranlassen sollte, einem eliminatorischen Reduktionismus zu verfallen. Dieser würde uns nämlich zu der Annahme zwingen, dass alles, was in der Welt existiert, letztlich bloß Physik ist – und nichts weiter ! Diese Positionierung hätte nicht nur fatale Konsequenzen für unser Selbstverständnis, wie ich weiter unten zeigen werde, sie dürfte auch empirisch falsch sein! Denn wir haben durchaus Grund zu der Annahme, dass das Reich des Lebendigen uns nicht bloß als eine »eigene Welt« erscheint , welche wir phänomenal von der Welt der bloßen Physik abgrenzen können, sondern dass dieses Reich des Lebendigen tatsächlich eine ganz eigene Welt ist , in der eigene Gesetzmäßigkeiten gelten, die zwar den physikalischen Prinzipien entsprechen, aber dennoch in dieser spezifischen Form in der Welt der bloßen (anorganischen) Physik nicht vorherrschen.
    Das Problem, das mit der Annahme einer solchen Selbstorganisation emergenter Systeme verbunden ist, ist offensichtlich: Sie setzt voraus, dass es neben der Mikrodetermination , der Bestimmung des emergenten Systems durch Ursachen auf niederer Integrationsebene, auch so etwas geben muss wie Makrodetermination , also die Rückwirkung des emergenten Systems auf die niederen Integrationsebenen. Denn: Gäbe es solche Rückwirkungen nicht, so wäre Emergenz nichts weiter als ein phänomenaler Spuk, der in der physikalischen Realität nicht von Bedeutung wäre. 5
    Die Frage allerdings ist: Wie sollte Makrodetermination in einem nachweislich von Mikrodetermination bzw. aufwärtsgerichteter Verursachung bestimmten Universum möglich sein? Dass physikalische Prozesse die Grundlage für chemische und biologische Prozesse bilden, ist jedem Naturalisten einsichtig, doch wie könnte umgekehrt ein Gedanke Auswirkungen auf Moleküle und Atome haben? Würde das nicht bedeuten, dass es im Universum letztlich doch nicht »mit rechten Dingen« zugeht? Mit anderen Worten: Beruht die Idee der Makrodetermination nicht per se auf anti-naturalistischen Annahmen?
    Ich denke, dass es einen Weg gibt, das Prinzip der Makrodetermination zu
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