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Jenseits von Gut und Böse

Jenseits von Gut und Böse

Titel: Jenseits von Gut und Böse
Autoren: Michael Schmidt-Salomon
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Formelsprache übersetzt heißt dies: U1 → W1 (etwa eine neuronale Aktivität) ist zwar die notwendige Voraussetzung für den emergenten Prozess U*1 → W*1 (etwa einen Gedankengang), aber U*1 → W*1 kann deshalb noch lange nicht vollständig auf U1 → W1 reduziert werden!
    Der Reiz des hier vorgeschlagenen Modells besteht darin, dass es erklärt, auf welche Weise emergente Prozesse ihren »Fußabdruck« in der physikalischen Welt hinterlassen, ohne dass wir hierfür eine geheimnisvolle fünfte Grundkraft der Physik (neben der Gravitationskraft sowie der starken, schwachen und elektromagnetischen Wechselwirkung) postulieren müssen. Wie aber ist das möglich? Ganz einfach: Die Rückwirkungen emergenter Systeme auf niedere Integrationsebenen »bedienen« sich der Gesetzmäßigkeiten dieser niederen Ebenen, weshalb sie aus deren Perspektive »unsichtbar« sind!
    Denken Sie an das oben angeführte Beispiel: Wenn Fischspezies 1   Spezies 2 verdrängt, so heißt dies, dass die spezifische Anordnung von Atomen, Molekülen etc., die für Spezies 2 charakteristisch war, nun nicht mehr auftritt. Auf physikalischer Ebene ist dabei nichts Ungewöhnliches passiert (es gab keine Verstöße gegen die Gesetze der Gravitation oder der starken, schwachen oder elektromagnetischen Wechselwirkung) – und doch ist in der Welt etwas Bedeutsames geschehen (zumindest für die Mitglieder der Spezies 1 und 2!), was sich letztlich auch im physikalischen Kosmos niederschlug, ohne dass dies aus einer rein physikalischen Perspektive überhaupt als Besonderheit verbucht werden konnte!
Abschied vom »Nichts-weiter-als«-Syndrom
    Da die Rückwirkungen emergenter Systeme aus der Perspektive der niederen Integrationsebene »unsichtbar« sind, kann der Ansatz des eliminatorischen Reduktionismus, der reale Wirkungen emergenter Systeme bestreitet, als plausibel, ja sogar als »wissenschaftlich elegant« erscheinen. Allerdings fordert diese denkmögliche Position einen hohen Preis! Denn dieser Ansatz läuft darauf hinaus, dass sämtliche Erscheinungen in der Welt (inklusive der menschlichen Kultur) nichts weiter sind als Epiphänomene physikalischer Prozesse. Unter dieser Voraussetzung würde es uns nur so erscheinen , als ob unsere Überzeugungen, Überlegungen, Gefühle etc. von Bedeutung sind, tatsächlich aber wären sie bloß vernachlässigbare Folgeerscheinungen der vier physikalischen Grundkräfte (Gravitation, starke, schwache und elektromagnetische Wechselwirkung).
    Jede Berufung auf die Wirksamkeit von Gründen, von Aufklärung und Selbstreflexion, jede Diskussion über die Güte von Argumenten, wäre damit hinfällig! Denn unter dieser Voraussetzung würden wir irrationale und/oder inhumane Standpunkte (etwa den Fundamentalismus bin Ladens) nicht deshalb kritisieren, weil wir uns dank rationaler Argumente von der Richtigkeit dieser Position überzeugt haben, sondern weil gänzlich unintelligente, physikalische Prozesse unsere Gehirne so determinieren, dass wir exakt so und nicht anders denken können (was im umgekehrten Falle für Osama bin Laden selbstverständlich in gleichem Maße gelten würde).
    Glücklicherweise ist ein solcher »physikalischer Fatalismus« keineswegs die einzige denkmögliche, naturalistische Position, denn das starke, naturalistische Emergenz-Prinzip lässt sich, wie wir gesehen haben, ebenso gut mit naturalistischen Grundannahmen vereinbaren. Das Einzige, was von der naturalistischen Seite in diesem Zusammenhang verlangt wird, ist eine Überwindung des eliminatorischen »Nichts-weiter-als«-Syndroms 8 , welches in naturwissenschaftlichen Kreisen leider stark verbreitet ist!
    Statt weiterhin zu behaupten, dass kognitive Überlegungen »nichts weiter« seien als neurobiologische oder gar physikalische Prozesse, sollten wir uns auf die nüchterne Feststellung beschränken, dass jede Abwägung von Gründen notwendigerweise von entsprechenden physikalischen und neurobiologischen Prozessen hervorgerufen wird. Jenseits des Physikalischen und Biologischen gibt es keine Gründe! Doch das heißt keineswegs, dass biologische und physikalische Erklärungsmuster alleine schon ausreichen würden, um zu verstehen, warum sich Person A für einen kritischrationalen Denkansatz entscheidet, während B einer okkulten Sekte beitritt!
    Mit anderen Worten: Wir stehen hier nicht vor der Entscheidung zwischen einem »Nur-Physikalismus« (eliminatorischer Reduktionismus), der ausschließlich (!) physikalische Prozesse berücksichtigt, und
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