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Jenseits von Gut und Böse

Jenseits von Gut und Böse

Titel: Jenseits von Gut und Böse
Autoren: Michael Schmidt-Salomon
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einem »Nicht-Physikalismus« (Supranaturalismus, Dualismus etc.), der meint, physikalische Prozesse in irgendeiner Weise ausblenden zu können! Zur Auswahl steht uns auch ein »Nicht-Nur-Physikalismus« (emergentistischer Physikalismus, Materialismus oder Naturalismus), 9 der die Allgegenwart der basalen, physikalischen Prozesse berücksichtigt, aber trotzdem anerkennt, dass sich auf emergenter Ebene eigene Gesetzmäßigkeiten entwickelt haben, die einen realen, wenn auch physikalisch »unsichtbaren« (weil im Einklang mit den bekannten physikalischen Gesetzmäßigkeiten stehenden!) Einfluss auf die niederen Integrationsebenen haben.
Emergenz, Reduktionismus und die Einheit des Wissens
    Diese Grundausrichtung der Argumentation hat weitreichende Konsequenzen, beispielsweise im Hinblick auf die wissenschaftstheoretische Debatte: So ist etwa die Ausdifferenzierung der Wissenschaft in verschiedene Disziplinen darüber legitimiert, dass die Forschungsgegenstände von Ökonomie, Pädagogik, Linguistik, Literatur- oder Musikwissenschaft als emergente Systeme jeweils eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen, die sich nicht vollständig in Biologie, Chemie oder gar Physik überführen lassen. Allerdings liegt dieser Vielfalt der Disziplinen eine von vielen übersehene »Einheit des Wissens« zugrunde, die durch den unaufhörlichen Strom der aufwärtsgerichteten Verursachung (Mikrodetermination) bedingt ist. Dabei gilt: Je höher der Emergenzgrad eines Systems ist, desto größer ist auch das »reduktionistische Erbe«, das ihm zugrunde liegt!
    Dieses »reduktionistische Erbe« muss in der wissenschaftlichen Erforschung emergenter Systeme berücksichtigt werden. Jedem Forscher sollte klar sein: Etwas, das physikalisch unmöglich ist, ist auch ökonomisch unmöglich; etwas, das schon biologisch absurd ist, ist auch philosophisch absurd! Trotz alledem haben Geistes- und Sozialwissenschaftler recht, wenn sie vor einer Überinterpretation naturwissenschaftlicher Erkenntnisse warnen, schließlich ist Physik (aufgrund der Wirkungen der Makrodetermination) nicht gleichbedeutend mit Ökonomie und Biologie, nicht mit Philosophie! Unrecht haben sie jedoch, wenn sie meinen, naturwissenschaftliche Erkenntnisse in irgendeiner Weise ignorieren zu dürfen, denn das »reduktionistische Erbe« ihrer emergenten Forschungsgegenstände ist schlichtweg unaufhebbar!
    Vergessen wir nicht: Emergente Spielregeln können basale Spielregeln zwar ergänzen und sogar selektiven Einfluss auf deren Auftrittswahrscheinlichkeit nehmen, aber sie können diese basalen Prozesse niemals aufheben (weshalb die liberalistische Vorstellung eines »ursachenfreien Willens« schon vom Ansatz her unsinnig ist)! Von daher sollte der naturwissenschaftliche Reduktionismus nicht als Bedrohung, sondern vielmehr als notwendige Basis der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung begriffen werden. Als Leitsatz der Forschung können wir somit formulieren: »So viel Reduktionismus wie möglich, so viel Komplexität wie nötig!«
    Ich denke, dass ich diese Maxime in meinen bisherigen Veröffentlichungen berücksichtigt habe – auch wenn ich die zugrunde liegende Denkfigur des starken, naturalistischen Emergenz-Prinzips zuvor nicht explizit auswies. Diese fehlende Offenlegung hat leider zusätzliche Missverständnisse provoziert. So fühlten sich Autoren, die das Prinzip der Mikrodetermination nicht hinreichend berücksichtigen, dazu genötigt, mir gegenüber den Reduktionismus-Vorwurf zu erheben, während Autoren, die das Prinzip der Makrodetermination übersahen, meinten, ich würde nicht reduktionistisch genug argumentieren und stattdessen unnötige, anti-naturalistische »Bonus-Gesetze« postulieren. 10
    Ein Beispiel für die erste Variante eines solchen Missverständnisses (Reduktionismus- bzw. Biologismus-Vorwurf) lieferte unlängst Professor Reinhold Leinfelder, der Direktor des Museums für Naturkunde Berlin. 11 Er warf mir vor, eine biologistische Form der Philosophie zu betreiben, was sich u.   a. darin ausdrücke, dass ich den »Eigennutz« nur »in humane Bahnen lenken« wolle, statt ihn zu »überwinden«. Was ist von diesem Vorwurf zu halten?
    Nun, wenn es stimmt, was ich hier über Mikro- und Makrodetermination dargelegt habe, so können wir schlichtweg nicht verhindern, dass wir »Trockennasenaffen« nach Wohl-und-wehe-Empfindungen agieren und »das subjektiv Beste« für uns herausholen möchten, denn das »Prinzip Eigennutz« ist ein unaufhebbares Erbe der
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