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Jenseits von Gut und Böse

Jenseits von Gut und Böse

Titel: Jenseits von Gut und Böse
Autoren: Michael Schmidt-Salomon
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biologischen Evolution! Jedoch können wir sehr wohl im Sinne der beschriebenen Makrodetermination kulturell auf die Häufigkeit des Auftretens bestimmter Wohl-und-wehe-Reaktionen Einfluss nehmen! Wir können beispielsweise mit guten, humanen Argumenten sowie förderlichen sozialen Rahmenbedingungen darauf hinwirken, dass ein sozialverträglicher, »empathischer Eigennutz« (gewissermaßen ein »Wille zum Altruismus«) wahrscheinlicher wird. Wir können aber auch mithilfe von menschenverachtenden Ideologien und unfairen Sozialstrukturen die Wahrscheinlichkeit inhumaner Formen von Eigennutz fördern. 12 Somit würden statt des empathischen Eigennutzes vermehrt Varianten eines individuell-verkürzten Egoismus auftreten oder aber jene begrenzt-altruistischen, letztlich kriegstreiberischen Formen des Gruppenegoismus, die ich in diesem Buch beschrieben habe (siehe das Unterkapitel »Die Hölle sind die anderen«, S.   69 ff.)
Evolutionäre Basteleien: Die gradualistische Sichtweise
    Gewöhnlich stellen wir uns die Entstehung emergenter Systeme als »plötzliche Geschehnisse« vor, haben also den Eindruck, die Natur würde »Sprünge« machen, die zu größerer Komplexität führen. Wie die meisten Evolutionstheoretiker vertrete ich jedoch eine dezidiert gradualistische Sichtweise , die davon ausgeht, dass die Einführung neuer emergenter Spielregeln in winzig kleinen Schritten erfolgt, die im ersten Moment keineswegs als besonders bedeutsam erscheinen, aber doch auf lange Sicht gravierende Folgewirkungen haben können.
    Im Buch wurde dies u.   a. anhand der Entstehung von »Empfindsamkeit« beschrieben. Diesem emergenten System der »Empfindsamkeit« sind, wie ich ausführte, viele wichtige, evolutionäre Schritte vorausgegangen, etwa die Entstehung organischer Materie aus anorganischer, die Bildung von Vesikeln (Bläschen), die einen Satz von Nukleinsäuren von der Außenwelt abgrenzten, sowie die Entstehung von Replikationsmechanismen, die dafür sorgten, dass sich bestimmte Anordnungen von Biomolekülen stärker ausbreiteten als andere.
    Nachdem der genetische Kopierwettbewerb in Gang gesetzt worden war, bestimmte er die Evolution des Lebens bis zum heutigen Tage (ein wesentlicher Teil unseres »reduktionistischen Erbes«, wie Soziobiologen zu Recht betonen 13 ). Die ersten Protoorganismen, die sich an diesem Kopierspiel beteiligten, waren allerdings noch nicht in der Lage, in irgendeiner Weise mit ihrer Umwelt zu interagieren. Erst im Verlauf von vielen Jahrmillionen entwickelten sich interne Stoffwechselprozesse, die es den Organismen ermöglichten, zwischen (für den Selbsterhalt und Kopiererfolg) schädlichen und förderlichen Umweltreizen zu unterscheiden. Diese Reizbarkeit des internen Systemzustands entstand ganz allmählich – auch hier machte die Natur keine Sprünge! Doch nachdem sich das »Prinzip Empfindsamkeit« etabliert hatte, avancierte es zu einer neuen, emergenten Spielregel der Evolution, die sich mehr und mehr selbst verstärkte! Schließlich besaßen Organismen, die schädlichen Reizen ausweichen konnten, in entsprechenden ökologischen Nischen Selektionsvorteile gegenüber Protoorganismen, die über derartige Reiz-Reaktionsmechanismen nicht verfügten.
    So wie sich das »Prinzip Empfindsamkeit« der basalen genetischen Kopierprozesse bedient und allmählich (per Makrodetermination) Einfluss auf die Häufigkeit des Auftretens bestimmter genetischer Informationen nahm (nämlich solcher, die halfen, »Empfindsamkeit« auszudifferenzieren), so beruhen auch die komplexen Emotionen, über die wir Menschen heute verfügen, auf jenen alten Reiz-Reaktionsmechanismen, die sich bei unseren primitiven Vorfahren vor Urzeiten entwickelten. Allerdings sind unsere Emotionen (Liebe, Trauer, Hass etc.) keineswegs allein auf diesen Mechanismus zu reduzieren. Um sie zu verstehen, müssen wir zusätzliche, emergente Spielregeln beachten, die teilweise bereits vor Jahrmillionen in Erscheinung traten, etwa die Ausdifferenzierung der Außenwahrnehmung (»Empfindsamkeit« beruhte auf der Wahrnehmung des inneren Systemzustandes, die Fähigkeit zur Repräsentation der Außenwelt entwickelte sich später und stachelte ihrerseits einen neuen emergenten Wettbewerb an). Andere Spielregeln, die unseren Gefühlshaushalt nachhaltig beeinflussen, entstanden hingegen erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit, nämlich im Zuge der menschlichen Kulturevolution.
    Am Beispiel der Kulturevolution lässt sich besonders eindrücklich
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