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Jenseits von Gut und Böse

Jenseits von Gut und Böse

Titel: Jenseits von Gut und Böse
Autoren: Michael Schmidt-Salomon
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jener Schneeball-Lawinen-Effekt verdeutlichen, der für das Verständnis emergenter Systeme wesentlich ist: Aus minimalen Unterschieden in den Ausgangsbedingungen können im Verlauf des evolutionären Spiels Unterschiede erwachsen, die so gewaltig sind, dass man die zugrunde liegenden Gemeinsamkeiten leicht übersieht. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Unterschiede zwischen Mensch und Schimpanse. Biologisch betrachtet sind diese Unterschiede bekanntlich marginal. (Der Primatologe Volker Sommer weist in seinen Vorträgen gerne darauf hin, dass die genetische Differenz zwischen Menschen und Schimpansen geringer ist als die Differenz zwischen Menschenmännern und Menschenfrauen!). Wie also erklären wir uns angesichts dieser so ähnlichen Ausgangsbedingungen, dass die Schimpansen über die Erfindung einfacher Werkzeuge nicht hinauskamen, während wir Menschen lernten, Städte zu erbauen, zum Mond zu fliegen oder klassische Opern zu komponieren?
    Die biologische Antwort hierauf ist erstaunlich einfach: Menschenbabys können im Vergleich zu anderen Primatenbabys besser »nachäffen«, also das Verhalten von Gruppenmitgliedern exakter kopieren (eine wesentliche Voraussetzung für das Modelllernen). Dies hat zur Folge, dass das emergente Spiel des sozialen Lernens in menschlichen Kulturen eine ganz andere Dynamik entfalten konnte als in Schimpansenkulturen. Freilich war es vor sechs Millionen Jahren, als sich die Abstammungslinien von Menschen und Schimpansen voneinander trennten, noch längst nicht absehbar, wie weit die menschliche Kulturentwicklung voranschreiten würde. Noch vor 40 000 Jahren hätte wohl niemand unserer Spezies zugetraut, dass sie irgendwann einmal über Satelliten kommunizieren würde. Doch das emergente System der Kultur evolvierte mehr und mehr, insbesondere nachdem es mit der Erfindung von Sprache und Schrift möglich wurde, soziale Lernerfahrungen über längere Zeiträume hinweg zu konservieren. So entstand aus einem anfangs marginalen biologischen Unterschied im Laufe der Zeit eine immer größer werdende kulturelle Kluft zwischen Menschen und Schimpansen.
    Selbstverständlich sollten uns diese kulturellen Unterschiede nicht dazu verleiten, die vielen Gemeinsamkeiten zu übersehen, die zwischen uns und den anderen Menschenaffen bestehen. Schimpansen, Bonobos und Gorillas sind uns viel näher, als der erste Eindruck suggerieren mag. 14 Der Grund hierfür ist, dass die Kultur (wie jedes andere emergente System) letztlich darauf angewiesen ist, auf der Tastatur der bereits etablierten basalen Systeme zu spielen. Sie erschafft den Menschen eben nicht »neu«, sondern ist auf die vorhandenen, biologischen Mechanismen angewiesen. So »erhaben« uns also ein philosophischer Gedanke auch immer erscheinen mag (und vielleicht auch ist!), auf biologischer Ebene geht es dabei (wie im Gehirn einer Ratte) nur um das An- und Ausschalten von Genen, Neurotransmittern und elektrischen Impulsen.
    Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass Eric Kandel seine wegweisenden Erkenntnisse zur Funktionsweise des Kurz- und Langzeitgedächtnisses, für die er im Jahr 2000 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, aus Studien an einem »primitiven« Weichtier, nämlich der Meeresschnecke Aplysia californica , schöpfte. Früher dachten die Forscher, das menschliche Gehirn sei so einzigartig, dass man es mit dem Aufbau anderer neuronaler Systeme nicht vergleichen könne. Mittlerweile wissen wir es besser, wie Kandel schreibt: »Alles Leben, sogar das Substrat unserer Gedanken und Erinnerungen, besteht aus den gleichen Bausteinen.« 15
    Die Evolution ist, wie vor allem die sog. »Evo-Devo«-Forschung gezeigt hat, 16 eine erstaunlich konservative Veranstaltung: Sie erfindet niemals komplett Neues, sondern bedient sich unablässig des bereits Vorhandenen. Der Molekulargenetiker Francois Jacob charakterisierte die Evolution daher zu Recht als »Bastelei« oder »Flickwerk«. 17 In der Tat nutzt die Evolution wie ein Bastler »allen möglichen Krimskrams«, den sie vorfindet. Statt planvoll vorzugehen, stoppelt sie aus dem vorliegenden Material notdürftig neue Objekte zusammen.
    Diese evolutionäre Bastelei steht in völligem Einklang mit dem zuvor beschriebenen Prinzip der Makrodetermination. Denn, wie gesagt: Emergente Systeme (etwa Lebewesen, Gruppen, Ökosysteme, Kulturen) können an den basalen Prozessen nichts grundlegend ändern, sondern bloß selektiven Einfluss auf die Häufigkeit ihres Auftretens ausüben!
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