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Jenseits von Gut und Böse

Jenseits von Gut und Böse

Titel: Jenseits von Gut und Böse
Autoren: Michael Schmidt-Salomon
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berücksichtigen, ohne hierdurch die wissenschaftlich sinnvollen und erfolgreichen, naturalistischen Grundannahmen zu verletzen. Die Lösung dieses Problems besteht darin, dass man die abwärtsgerichtete Wirkung emergenter Systeme eben nicht im Sinne des newtonschen oder einsteinschen Kausalitätsprinzips versteht, sondern vielmehr im Sinne des darwinschen Evolutions- bzw. Selektionsprinzips . 6
    Hierzu muss man sich Folgendes vergegenwärtigen: Emergente Systeme (etwa unterschiedliche Individuen, Familien, Kulturen, Institutionen, Begriffsbildungen, Moden, Musik- oder Lebensstile) sind nicht gleichermaßen stabil und erfolgreich. Einige sind höchst flüchtig, andere haben länger Bestand und pflanzen sich fort. Wir können hier also von einem »darwinschen Wettbewerb der emergenten Systeme« sprechen. Was aber hat dies mit den Teilen auf den niederen Integrationsebenen zu tun? Nun, der Wettbewerb der emergenten Systeme ist letztlich ein »Wettbewerb der Ordnung der Teile«! Insofern kann man die abwärtsgerichtete Wirkung emergenter Systeme als ein Resultat des Wirkens von emergenten Selektionskräften verstehen, die bestimmte »Ordnungen der Teile« begünstigen oder diese unwahrscheinlich machen.
    Wenn ich mich nicht irre (was ich keineswegs ausschließen mag!), so handelt es sich hierbei um ein allgemeines Emergenz-Gesetz , das auf unterschiedlichsten Ebenen zu beobachten ist: Wenn sich in einem See eine bestimmte Fischart gegen andere Fischarten durchsetzt, so hat dies keinen Einfluss auf den grundlegenden Mechanismus der Vererbung, der darauf beruht, dass Erbinformationen mithilfe von Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin gespeichert werden, wohl aber hat es Einfluss auf die Häufigkeit , in der bestimmte Anordnungen dieser Nukleinbasen auftreten. Wenn in einer Kultur Horrorfilme erfolgreicher im Kino laufen als Liebesromanzen, hat dies keinen Einfluss darauf, dass romantische Gefühle durch das Neuropeptid Oxytocin und Stressreaktionen durch das Hormon Adrenalin ausgelöst werden, aber es hat sehr wohl Einfluss auf die relative Häufigkeit der Ausschüttung von Oxytocin und Adrenalin in einer Kultur. Gleichermaßen hat Katja Ebsteins erfolgreicher Schlager »Wunder gibt es immer wieder« keineswegs das »Wunder« vollbracht, den physikalischen Mechanismus der Entstehung und Übertragung von Tonfrequenzen bzw. den biologischen Mechanismus der Interpretation von Schallwellen im Ohr bzw. im Gehirn zu verändern. Wohl aber sorgte dieser Schlager dafür, dass eine spezifische Anordnung von Tonfrequenzen in einer ganz bestimmten geografischen Region (deutschsprachiger Raum) in verstärktem Maße auftrat und von lebenden Organismen neuronal verarbeitet wurde.
    Den grundlegenden Mechanismus der Makrodetermination können wir also folgendermaßen formulieren: Der Selektionsprozess S*1 bewirkt auf emergenter Ebene, dass U*1 → W*1 häufiger auftritt als U*2 → W*2 (beispielsweise könnte eine Verschmutzung des Wassers bewirken, dass Fische der Spezies 1 häufiger geboren werden als Fische der Spezies 2). Das wiederum hat auf basaler Ebene zur Folge, dass U1 → W1 häufiger auftritt als U2 → W2 (etwa die molekularen Prozesse, die für Spezies 1 und 2 typisch sind). Mit anderen Worten: Die »abwärtsgerichtete Verursachung« des emergenten Prozesses U*1 → W*1 wirkt nicht in einem kausal-deterministischen Sinne, da U*1 → W*1 nicht U1 → W1 hervorrufen kann, aber sie hat sehr wohl einen selektiven Einfluss auf die Häufigkeit , in der U1 → W1 auftritt.
    Wie man sieht, beruht das von mir vertretene Konzept einer starken, naturalistischen Emergenz auf der Annahme, dass emergente Systeme tatsächlich (nicht bloß scheinbar !) eigene Gesetzmäßigkeiten aufweisen, die nicht restlos auf Ursachen auf niederer Integrationsebene zurückzuführen sind, weil sie aufgrund ihres höheren Informationsgrades (»Information« = »In-Formation-Gebrachtsein« der Teile) selbst selektiven Einfluss auf die Häufigkeit des Auftretens von Prozessen auf niederer Integrationsebene haben.
    Das bedeutet beispielsweise, dass die unterschiedlichen menschlichen Sprach-Kulturen zwar allesamt biologisch bedingt sind, aber nicht hinreichend über biologische Prinzipien erklärt werden können. Ebenso müssen wir einsehen, dass Leben auf spezifischen physikalischen und chemischen Voraussetzungen beruht, jedoch nicht auf diese reduziert werden kann, ohne dass wir dabei Wesentliches (etwa die Bedeutung des Eigennutzprinzips) übersehen. 7 In
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