Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt
Autoren: Amy Waldman
Vom Netzwerk:
1
    D ie Namen«, sagte Claire. »Was ist mit den Namen?«
    »Sie dienen doch nur als Dokumentation«, antwortete die Bildhauerin. Die anderen Künstler, der Kritiker und die beiden Kuratoren für Kunst im öffentlichen Raum, die um den Esstisch versammelt waren, nickten so einhellig zu Arianas Worten, als stünden sie unter ihrem Bann. Sie war das berühmteste und einflussreichste Mitglied der Jury, Claires größtes Problem.
    Ariana hatte am Kopf des Tischs Platz genommen, als führte sie den Vorsitz. In den letzten vier Monaten hatte die Jury an einem runden Tisch getagt, an dem sich dieses Problem nicht stellte, in einem Büro hoch über dem verwüsteten Gelände. Die anderen Juroren hatten Rücksicht auf den Wunsch der Witwe genommen, mit dem Rücken zum Fenster zu sitzen, so dass sie den Ort des schrecklichen Geschehens nur auf dem Weg zu ihrem Platz als undeutlichen grauen Fleck wahrnahm. Heute jedoch hatte sich die Jury für die endgültige, entscheidende Debatte am langen Esstisch von Gracie Mansion, dem Sitz des New Yorker Bürgermeisters, zusammengefunden. Und Ariana hatte ohne vorherige Absprache und ohne jeden Anlass, wie es schien, den Ehrenplatz am Kopf des Tischs eingenommen, ein eindeutiger Hinweis darauf, dass sie fest entschlossen war, ihren Willen durchzusetzen.
    »Die Namen der Toten sind eine selbstverständliche Voraussetzung und werden in den Ausschreibungsbedingungen explizit verlangt«, fuhr sie fort. Für eine so herbe Person hatte sie eine geradezu honigsüße Stimme. »Aber in der idealen Gedenkstätte werden nicht die Namen die Emotionsträger sein.«
    »Für mich schon«, sagte Claire mit gepresster Stimme und empfand eine gewisse Befriedigung angesichts der gesenkten Blicke und der betretenen Mienen der anderen Anwesenden. Natürlich hatte der Anschlag auch ihnen viel genommen – das Gefühl, dass ihr Land unangreifbar war, das sichtbarste Wahrzeichen ihrer Stadt, vielleicht Freunde oder Bekannte. Aber sie war die Einzige, die ihren Mann verloren hatte.
    Claire hatte keine Skrupel, sie am heutigen Abend, an dem die endgültige Entscheidung über die Gedenkstätte fallen würde, daran zu erinnern. Gemeinsam hatten sie fünftausend anonyme Bewerbungen gesichtet. Eigentlich hätte die jetzt anstehende endgültige Entscheidung zwischen den beiden übrig gebliebenen Entwürfen ein Kinderspiel sein müssen. Aber nach einer dreistündigen Diskussion, zwei Abstimmungsrunden und zu viel Wein aus den Privatbeständen des Bürgermeisters wurde die Stimmung immer gereizter und aggressiver, drehte sich die Debatte immer mehr im Kreis. Der Garten , Claires Favorit, war zu schön , betonten Ariana und die anderen Künstler immer wieder. Zu sehen war ihr Beruf, aber was den Garten anbelangte, wollten sie anscheinend partout nicht sehen, was Claire sah.
    Das Konzept des Gartens war denkbar einfach: ein von Mauern eingefasster quadratischer, streng geometrisch untergliederter Raum. In der Mitte lud ein etwas erhöhter Pavillon zur Besinnung ein. Zwei breite, rechtwinklig aufeinandertreffende Kanäle viertelten das sechs Hektar große Gelände. Gehwege innerhalb der vier Quadranten bildeten zusammen mit den Bäumen, den echten und denen aus Stahl, die wie in einer Baumschule in Reih und Glied ausgerichtet waren, ein Raster. Die Namen der Opfer sollten auf den Innenflächen der weißen, neun Meter hohen Umfassungsmauer aufgelistet werden, so angeordnet, dass das Textfeld den Umriss der zerstörten Gebäude ergab. Die stählernen Bäume riefen die Türme noch buchstäblicher in Erinnerung: Sie würden aus den gefundenen Metallüberresten hergestellt werden.
    Vier Zeichnungen zeigten den Garten im Lauf der Jahreszeiten. Am meisten liebte Claire die holzschnittartige Darstellung des winterlichen Gartens: Schnee bedeckte den Boden wie ein Bahrtuch, die kahlen echten Bäume wirkten wie aus Zinn gemacht, die aus Stahl hatten im Licht eines Spätnachmittags einen rosigen Schimmer angenommen, die onyxartigen Flächen der Kanäle glitzerten wie gekreuzte Schwerter. Schwarze Lettern hoben sich klar und deutlich von den weißen Mauern ab. Schönheit war schließlich kein Verbrechen, aber der Garten war mehr als nur schön. Sogar Ariana musste zugeben, dass die spartanischen Bäume aus Stahl ein unerwartetes Element darstellten – Erinnerung daran, dass ein Garten trotz aller Natürlichkeit etwas von Menschen Gemachtes war, perfekt für eine Stadt, in der Plastiktüten zusammen mit den Vögeln durch die Luft
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher