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Wilde Wellen

Wilde Wellen

Titel: Wilde Wellen
Autoren: Christiane Sadlo
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    Als alles vorbei war, dachte Marie Lamare manchmal darüber nach, ob sie an jenem Septembermorgen vielleicht gar nicht aufgestanden wäre, wenn sie gewusst hätte, was passieren würde. Vielleicht hätte sie sich ja einfach auf ihrem Polizeirevier krank gemeldet, hätte sich umgedreht und weitergeschlafen. Den ganzen Tag. Es wäre gar nichts passiert, und ihr Leben wäre einfach so weitergegangen wie bisher. Alles, was sie sich bis dahin erträumt hatte, wäre in Erfüllung gegangen. Sie hätte Karriere als Polizeikommissarin gemacht, hätte Thomas geheiratet, ein paar nette Kinder bekommen, und die Familie hätte sich einen Hund und wahrscheinlich auch ein Kaninchen angeschafft. Und sie wäre glücklich gewesen bis ans Ende ihrer Tage. Unbehelligt von den Schatten einer Vergangenheit, von der sie bis zu diesem Tag nichts geahnt hatte und die nun mit unheimlicher Macht in ihr Leben drangen. Marie war an diesem herrlichen Morgen, der ihr geliebtes Paris in mildes Spätsommerlicht getaucht hatte, nicht im Bett geblieben, hatte sich nicht umgedreht, um weiterzuschlafen. Sie hatte ja nicht geahnt, was an diesem Tag passieren würde. Und dass er der letzte ihres alten Lebens sein würde.
    Aus dem Bett zu springen, sich mit angehaltenem Atem unter die unberechenbare alte Dusche zu stellen, die je nach Laune zwischen eiskaltem und kochend heißem Wasser hin und her wechselte und an der sich schon ganze Horden von Klempnern die Zähne ausgebissen hatten, den Milchkaffee auf dem winzigen Balkon hoch über den Dächern von Paris zu trinken, war ihr liebgewordenes Ritual. Selbst im Winter stand sie morgens auf ihrem Ausguck, hielt sich bibbernd an der alten, blau getupften Kaffeeschale fest, die sie an ihrem ersten Samstag in Paris auf einem Flohmarkt erstanden hatte. Sie war unendlich zufrieden, hier zu sein, in der Stadt ihrer Träume. Überhaupt, war sie nicht ein glücklicher Mensch? In Paris zu leben, einen interessanten Beruf zu haben, einen tollen Mann an ihrer Seite, davon hatte sie geträumt, seit sie als Teenager angefangen hatte, Pläne für ihre Zukunft zu machen. Monique, ihre Mutter, hatte immer ein wenig gelächelt, wenn Marie ihr die Pläne für ihre aufregende Zukunft ausgemalt hatte.
    Â»Träume«, hatte sie gesagt. »Es ist gut, dass man sie hat. Aber ob sie sich erfüllen, liegt ausschließlich an dir.«
    Monique hatte ihre Tochter ermuntert, sich ein tolles, aufregendes, erfülltes Leben auszumalen. Und dabei immer versucht, den bitteren Geschmack, der bei diesen Mutter-Tochter-Gesprächen in ihr aufgestiegen war, zu verbergen. Marie sollte nicht von ihr erfahren, wie schnell Träume sich in Luft auflösen können, wie schnell das Leben einen zwingen kann, ganz andere Wege zu gehen, als man sich je gedacht hatte.
    Â»Du kannst alles erreichen, was du willst«, hatte sie zu ihrer Tochter gesagt. »Du darfst dich nur nicht beirren lassen und dein Ziel nicht aus den Augen verlieren.«
    Wie immer, wenn sie an ihre Mutter dachte, stolperte Maries Herz ein, zwei Schläge lang. Und wie immer konnte sie einen winzigen Seufzer nicht unterdrücken. Monique war vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie hatte nicht mehr erlebt, wie glücklich und zufrieden ihre Tochter in ihrem Pariser Leben war. Wie sehr hätte sie sich gefreut über Maries Aussichten, demnächst die Ausbildung zur Kriminalkommissarin anfangen zu können, wie sehr darüber, dass Marie in dem Banker Thomas Berger einen attraktiven, weltgewandten Partner gefunden hatte, den sie bald heiraten würde. Das Wichtigste war für Monique gewesen, dass Marie ihren Weg unbelastet würde gehen können. Und bis zu diesem Tag hatte es so ausgesehen, als würde dies auch geschehen.
    Â»Drei Tage London, Maman. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich darauf freue. – Ja, ich weiß, ich sollte endlich aufhören, mit einem Foto zu reden.« Marie verzog das Gesicht zu einem schuldbewussten Grinsen. Wie lange versuchte sie sich schon abzugewöhnen, mit dem Foto ihrer Mutter zu reden, das in der Küche an dem Büfett hing, das Marie als eines der wenigen Stücke aus dem Haushalt der Mutter mitgenommen hatte. Aber es war so schwer. Wenn sie dieses Foto ihrer Mutter ansah, war ihr die lebenslustige Frau mit den dunklen Augen einfach so nah. Und die Erinnerungen an ihr gemeinsames Leben so lebendig.
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