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Jenseits von Gut und Böse

Jenseits von Gut und Böse

Titel: Jenseits von Gut und Böse
Autoren: Michael Schmidt-Salomon
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maßgeblichen Studien zum Thema aus Nordamerika stammen, während es im deutschen Sprachraum bislang noch wissenschaftlich kaum rezipiert wird. 18 Woran liegt das? Ich vermute, dass dies wesentlich darauf zurückzuführen ist, dass der Begriff »Vergebung« so stark religiös besetzt ist und sich Forscher im säkularisierten Europa deshalb schwerer damit tun, auf diesem Gebiet zu arbeiten als ihre Kollegen im religiös orientierten Amerika. (In diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant zu wissen, dass ein Großteil der Studien von der religiös ausgerichteten Templeton Foundation finanziert wurde und wird. 19 )
    Nun bedeutet die Tatsache, dass die Strategie der Vergebung so erfolgreich von religiösen Memplexen adoptiert wurde, selbstverständlich nicht, dass Vergebung nur in einem religiösen Kontext erfolgen könnte oder nur in einem solchen positive Wirkungen zeigen würde. Dies belegt auch eine Studie des amerikanischen Forschers Kenneth Pargament, Psychologieprofessor an der Bowling Green State University in Ohio. 20 Pargament unterteilte Frauen, die Schwierigkeit hatten, Verletzungen in der Vergangenheit zu bewältigen, in drei Gruppen: Die erste Gruppe erhielt ein Vergebungstraining, das auf religiöse Argumente zurückgriff, die zweite Gruppe eines auf einer rein säkularen Basis (ohne Rückgriff auf religiöse Argumente), die dritte Gruppe diente als Kontrollgruppe, wurde also nicht trainiert, besser vergeben zu können. Das Ergebnis der Untersuchung: Die Frauen der ersten beiden Gruppen erzielten gegenüber der Kontrollgruppe gleichermaßen signifikante Fortschritte und fühlten sich nach dem Training besser. Ob beim Vergebungstraining religiöse Argumente bemüht worden waren oder nicht, war für den Heilungsprozess offenkundig nicht von Bedeutung.
    Es wäre daher ein Fehler, Vergebung als ein rein religiöses Konzept zu begreifen. Die heilende Kraft der Vergebung ist völlig unabhängig davon wirksam, ob man an einen Gott glauben mag oder nicht. Man muss nicht religiös sein, um zu erleben, dass Vergebung befreit, indem sie die Fesseln löst, die uns zwingen, in der Vergangenheit zu leben und mit dem dort erlittenen Unrecht zu hadern. Wer vergibt, der ist bereit, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen und sich wieder mit voller Kraft der Gegenwart und Zukunft zuzuwenden. Und dies dient nicht nur dem vergebenden Individuum selbst, sondern seiner gesamten Umgebung. Von daher muss man sich auch nicht darüber wundern, dass Menschen, die gut vergeben können, insgesamt stabilere und beglückendere Liebesbeziehungen und Freundschaften führen als Menschen, die die Kraft zur Vergebung nicht entwickelt haben.
    Es gibt Menschen, die es einem ein Leben lang nachtragen, wenn man einmal ihren Geburtstag vergessen hat. Andere lassen ihren Lebenspartner über viele Jahre hinweg dafür zahlen, dass er sich auf eine Affäre eingelassen hat. Wieder andere können es ihren Eltern nicht verzeihen, dass ihre Geschwister mehr Zuneigung und Liebe empfangen haben als sie selbst. Es gibt jedoch auch Menschen, die die Fähigkeit besitzen, anderen noch weit schwerwiegendere Dinge zu vergeben. Wie weit die Kraft der Vergebung im Extremfall gehen kann, zeigt der erstaunliche Fall der Familie Biehl. 21
    Amy Biehl war eine politisch aktive Collegestudentin aus Kalifornien, die in den frühen Neunzigerjahren nach Südafrika reiste, um die dortige Anti-Apartheits-Bewegung zu unterstützen. Tragischerweise geriet Amy bei einem Besuch eines Townships in Kapstadt in einen Volksaufstand und wurde als vermeintliche »Repräsentantin der weißen Unterdrückerschicht« von der aufgebrachten Menge gelyncht. Vier junge Männer wurden später des Mordes an Amy Biehl überführt und zu langen Gefängnisstrafen verurteilt.
    Als Nelson Mandela 1996 die Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission) einrichtete, wurde auch der Mordfall Amy Biehl vor dem »Komitee für die Gewährung der Amnestie« verhandelt. Amys Eltern, Linda und Peter Biehl, reisten nach Südafrika und unterstützten die Freilassung der Mörder ihrer Tochter. Peter Biehl erklärte vor dem Komitee: »Amy hätte Ihren Wahrheits- und Versöhnungsprozess sehr begrüßt. Wir sind heute Morgen hier anwesend, um dies zu ehren und unsere aufrichtige Freundschaft anzubieten. Wir sind hier … um über ein engagiertes Leben nachzudenken, das genommen wurde ohne Gelegenheit zum Dialog. Wenn wir mit diesem Prozess fertig sind, müssen wir mit
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