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Jenseits von Gut und Böse

Jenseits von Gut und Böse

Titel: Jenseits von Gut und Böse
Autoren: Michael Schmidt-Salomon
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Moralvorstellungen als verbindlich für alle Zeiten festzuschreiben.
    Nun muss man allerdings einräumen, dass selbst diejenigen, die aufklärerisch denken, die also das Prinzip der kritischen Prüfung wertschätzen und erkannt haben, dass wir nur über die gezielte Aufdeckung von Irrtümern Erkenntnisfortschritte erzielen können, oftmals enorme Schwierigkeiten damit haben, Fehler vor anderen einzugestehen. Es macht zweifellos einen großen Unterschied aus, ob man Epikurs Einschätzung, dass der Unterlegene einer wissenschaftlichen Diskussion den größeren Gewinn hat, weil er Neues lernt, rein kognitiv zustimmt oder ob man tatsächlich auf diese Weise empfindet , wenn man in eine solche Situation kommt.
    Die meisten von uns haben eher Angst davor, dass Irrtümer öffentlich aufgedeckt werden könnten, als dass sie sich darüber freuen würden, auf diese Weise von Irrtümern befreit zu werden. Woran liegt das? Ich meine, dies hat viel mit der Zuschreibung von Willensfreiheit zu tun. Denn wer Willensfreiheit unterstellt, der kann zu den eigenen Schwächen nur schlecht stehen, da er sie ja selbst angeblich »frei«, also ungezwungen verursacht hat und sie somit peinlicherweise auch allein verantworten muss. Kritische Argumente der Mitmenschen werden unter dieser Perspektive schnell als Gefahr empfunden, als unmittelbare Existenzbedrohung. Wer sich davor fürchtet, widerlegt zu werden, muss im Grunde immer und überall auf der Hut sein. Sobald in einem Gespräch Kritik anklingt, wird das Ich in höchste Alarmbereitschaft versetzt.
    Konsequenz: Unter der Voraussetzung der Willensfreiheitsunterstellung ist die Diskussion, die die Diskutierenden eigentlich weiterbringen sollte, häufig nichts weiter als ein Bombardement von Argumenten, die nicht die verhandelte Sache auf den Punkt bringen, sondern den Gegner an seiner schwächsten Stelle treffen sollen. Das Argument ist unter dieser Voraussetzung kein Geschenk , das ich dem anderen unterbreite, das ihm die Möglichkeit bietet, sein Denken zu entprovinzialisieren, es ist vielmehr eine Waffe , die ich einsetze, um unliebsame Kritik an der eigenen Person abzuwehren.
    Anders gewendet: Wenn ich vom Paradigma der Unschuld ausgehe und weiß, dass ich nichts dafür kann, dass ich diesem oder jenem Irrtum aufsitze, so kann ich eine Diskussion weit gelassener angehen. Ich habe schließlich nicht mehr zu verlieren als meine Denkfehler , von denen ich mich besser heute als morgen verabschiede. Wenn ich gelernt habe, mich selbst nicht mehr so schrecklich wichtig zu nehmen, so kann ich Argumenten, die mich infrage stellen, vorurteilsfreier begegnen. Ich werde ein Gespräch unter dieser Voraussetzung auch nicht mehr als Gelegenheit begreifen, den anderen mit festgezurrten Überzeugungen zu indoktrinieren, sondern darauf hinarbeiten, mit ihm gemeinsam bessere Lösungen zu entwickeln, die über das hinausgehen, was sowohl er als auch ich zuvor als richtig erachteten.
    Unter diesem Blickwinkel erlebe ich meinen Diskussionspartner, selbst wenn er von völlig konträren Standpunkten ausgehen sollte, nicht mehr als existenzielle Bedrohung , sondern als Bereicherung , als jemanden, der mir möglicherweise dabei helfen kann, die Dinge klarer zu sehen, indem er mir das Geschenk der Kritik macht. Das heißt natürlich nicht, dass ich sein Geschenk in jedem Fall annehmen müsste. (Auch einem geschenkten Gaul sollte man ins Maul schauen!) Doch ich werde die Argumente des anderen nicht allein schon deshalb ablehnen, weil sie von ihm stammen und vielleicht diametral den Memen widersprechen, die sich – aufgrund welcher Lebensumstände auch immer – im assoziativen Cortex meines Gehirns angesiedelt haben. Ich werde vielmehr überdenken, was er sagt, das heißt die in mir wirksamen Memplexe mithilfe der neu empfangenen Meme kritisch überprüfen.
    Produktiv ist ein Gespräch dann, wenn beide Gesprächspartner nicht nur den anderen belehren , sondern auch voneinander lernen wollen. Dazu ist es allerdings notwendig, dass wir den Mut und die Fähigkeit entwickeln, unsere Kritik möglichst pointiert und klar zu formulieren. Traut sich der andere nicht, seine Kritik an mir ganz unverblümt auszusprechen, weil er befürchten muss, mich damit zu verletzen, so reduziert diese falsche Rücksichtnahme meine Chance, etwas wirklich Neues hinzuzulernen, in beträchtlichem Maße. Deshalb auch ist die Überwindung des oben beschriebenen »emotionalen Glasknochen-Syndroms« so enorm wichtig. Wer nämlich jedes Mal,
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