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Jenseits von Gut und Böse

Jenseits von Gut und Böse

Titel: Jenseits von Gut und Böse
Autoren: Michael Schmidt-Salomon
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Rahmen des humanistisch-aufklärerischen Memplexes. Auch dieser Memplex »will« zweifellos kopiert werden (der Prozess der Aufklärung ließe sich durchaus auch als eine Art »innerweltliche Mission« beschreiben), jedoch definiert er sich dabei unter keinen Umständen als heilig, als unantastbar. Zwar gibt es durchaus bestimmte Kernelemente, die den humanistisch-aufklärerischen Memplex als solchen konstituieren (etwa Logik und Empirie in erkenntnistheoretischer Hinsicht, Orientierung an den Selbstbestimmungsrechten des Individuums in ethischer Hinsicht). Davon abgesehen jedoch besitzt der Memplex von Humanismus und Aufklärung einen »offenen Quellcode«, der immer wieder aufs Neue an die sich verändernden Rahmenbedingungen des Lebens angepasst werden kann.
    Wenn es ein zentrales formales Charakteristikum von Humanismus und Aufklärung gibt, so ist dies stete Veränderung. Es gibt keine heiligen Dogmen des Humanismus und auch keine ewigen Wahrheiten der Aufklärung, schließlich unterliegen die Welt und unsere Erkenntnisse über sie einem ständigen Wandel. Deshalb auch ist das Prinzip der Kritik für das Funktionieren des humanistisch-aufklärerischen Memplexes von solch fundamentaler Bedeutung. Denn nur durch die kritische Überprüfung unserer stets fehleranfälligen Annahmen über die Welt können wir die Irrtümer aufdecken, denen wir zuvor aufgesessen sind. Kritik befreit uns aus der Enge unserer angestammten Denkprovinz und öffnet uns den Blick für Zusammenhänge, die wir übersehen haben.
    Karl Popper, Hans Albert und viele andere haben daher das Falsifikationsprinzip (die Aufforderung zur systematischen Aufdeckung von Irrtümern) als Königsweg für den Prozess des Erkenntnisfortschritts beschrieben. Ein gewissenhafter Forscher sollte seine Theorien möglichst klar und präzise formulieren, sodass es anderen Wissenschaftlern leichter gemacht wird, die darin möglicherweise enthaltenen Fehler zu entdecken. Ohnehin sollten Forscher ihre Zeit weniger darein investieren, die eigenen Vorstellungen zu belegen, als nach den Fehlern in der eigenen Theorie zu suchen.
    Dies ist allerdings leichter gefordert als in die Praxis umgesetzt. Denn die Beherzigung des Falsifikationsprinzips verlangt von den Individuen eine Tugend, die in unserer Kultur kaum trainiert (und im religiösen Kontext sogar oftmals verteufelt) wird: nämlich die Fähigkeit, Kritik nicht bloß als Geschenk zu begreifen, sondern sogar die öffentliche Aufdeckung der eigenen Irrtümer als Gewinn.
    Können Sie sich vorstellen, es als persönlichen Gewinn zu verbuchen, wenn man Sie öffentlich eines gravierenden Denkfehlers überführt? Tatsächlich gibt es Menschen, die solche Größe zeigen. Richard Dawkins schilderte einmal ein prägendes Erlebnis, das er als junger Student in Oxford hatte: »Ein Gastdozent aus Amerika trug Belege vor, mit denen er die Lieblingstheorie des hoch geachteten Seniorchefs unseres zoologischen Instituts eindeutig widerlegte, eine Theorie, mit der wir alle groß geworden waren. Am Ende des Vortrags stand der alte Mann auf, schritt in dem Hörsaal nach vorn, schüttelte dem Amerikaner voller Zuneigung die Hand und sagte in klangvollem, bewegtem Ton: ›Mein lieber Freund, ich danke Ihnen. Ich hatte fünfzehn Jahre Unrecht.‹ Wir klatschten, bis uns die Handflächen brannten.« 11
    Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich halte den Ausspruch: »Mein lieber Freund, ich danke Ihnen. Ich hatte fünfzehn Jahre Unrecht« für eine der schönsten, würdevollsten Aussagen, die sich überhaupt denken lassen. In diesem Ausspruch zeigt sich nicht nur eine große menschliche Reife, er offenbart auch all die Vorzüge des aufgeklärten Denkens. Kann man sich vorstellen, dass sich religiöse Führer ähnlich souverän von ihren Glaubensdogmen verabschieden, wie sich Dawkins’ Seniorchef in Oxford einst von seiner Lieblingshypothese trennte? Wohl kaum! Schließlich ist eine Religionsgemeinschaft kein aufklärerischer Debattierclub, bei dem das bessere, stichhaltigere Argument zählen würde. Der Papst kann sich nicht einfach vor seine Gemeinde stellen und etwa in Bezug auf die Jungfräulichkeit Mariens, die Auferstehung der Toten oder das Wunder von Fatima erklären: »Uuups, da haben wir uns wohl geirrt!« Wer von unantastbaren, absoluten Wahrheiten ausgeht, der ist dazu verurteilt, nicht nur kluge, vernünftige Gedanken (die es zweifellos in jeder Religion gibt!), sondern auch gravierende Denkfehler und inhumane
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