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Jenseits von Gut und Böse

Jenseits von Gut und Böse

Titel: Jenseits von Gut und Böse
Autoren: Michael Schmidt-Salomon
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auf ihre religiösen Gefühle enorm verletzungsanfällig sind. Überdurchschnittlich religiöse Menschen leiden, so könnte man es vielleicht am treffendsten formulieren, unter einem »emotionalen Glasknochen-Syndrom«: In der Regel genügt eine kleine, spitze Bemerkung – und der religiöse Knochenbruch ist vorprogrammiert.
    Bei Lichte betrachtet hätten aufklärerisch gesinnte, religionsfreie Menschen eigentlich weit triftigere Gründe, sich aufgrund der zahlreichen religiösen Angriffe auf ihre Lebenshaltung in ihren »weltanschaulichen Gefühlen« verletzt zu sehen. Denn was sind schon die harmlosen Späßchen, mit denen sich aufklärerische Satiriker über religiöse Glaubensvorstellungen lustig machen, verglichen mit dem, was ihnen in Bibel und Koran angedroht wird? Was, bitte schön, drückt eine größere Missachtung der Person aus: der aufklärerische Spott über obskure Glaubensvorstellungen (»Diesen Unsinn könnt ihr doch nicht wirklich ernst nehmen!«) oder die in den »heiligen Texten« ständig wiederholte Drohung mit ewigen Höllenqualen (»Dafür werdet ihr ewig brennen!«)? Obgleich die objektiven Reize, denen Ungläubige (in Wort und Tat!) ausgesetzt sind, weit gravierender sind als jene, mit denen sich Gläubige herumplagen müssen, ergehen sie sich nicht in wütenden Protesten, sie rufen auch nicht nach dem Zensor, geschweige denn, dass sie religiöse Prediger an Leib und Leben bedrohen würden. Der Unterschied in der Kritikempfindlichkeit von religionsfreien und sehr religiösen Menschen ist signifikant. 9 Doch worin ist er begründet?
    Meines Erachtens lässt sich dieser Unterschied vor allem auf die besonderen Kopiermechanismen zurückführen, die religiöse Memplexe (insbesondere die Memplexe des Christentums und des Islam) zur Sicherung ihres »Überlebens« ausgebildet haben. Religiöse Memplexe definieren sich nämlich selbst als »heilig«, das heißt: als unantastbar. Sie enthalten nicht nur die Aufforderung, massenhaft kopiert zu werden (über religiöse Kindererziehung, Mission etc.), sondern auch die strikte Anweisung, dass die in ihnen enthaltenen Meme (Glaubensdogmen) unter keinen Umständen verändert werden dürfen. (Nicht ohne Grund heißt es in den letzten Zeilen des Neuen Testaments : »Wer etwas hinzufügt, dem wird Gott die Plagen zufügen, von denen in diesem Buch geschrieben steht. Und wer etwas wegnimmt von den prophetischen Worten dieses Buches, dem wird Gott seinen Anteil am Baum des Lebens und an der heiligen Stadt wegnehmen, von denen in diesem Buch geschrieben steht.« 10 )
    Kommt es, trotz des strikten Verbots der Abänderung, im Zuge des Kopierprozesses religiöser Meme zu nachhaltigen Abweichungen vom Original (Ausbildung verschiedener Glaubensrichtungen innerhalb einer Religion), so führt dies in der Regel zu schweren sozialen Konflikten unter den zwar eng verwandten, sich in einigen memetischen Details jedoch unterscheidenden Gruppen (man denke etwa an die Jahrhunderte währenden Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten oder zwischen Sunniten und Schiiten).
    Besonders problematisch ist es allerdings, wenn der heilige Memplex per se infrage gestellt wird, also wenn es zu einer wirklich gravierenden Antastung des vermeintlich Unantastbaren kommt. Solche Fundamentalkritik wird von Gläubigen häufig als echte Existenzbedrohung erfahren, was die Einleitung entsprechender Gegenmaßnahmen zur Folge hat. (Man darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen, dass das Christentum in der Zeit vor seiner aufklärerischen Zähmung – siehe etwa den Fall Giordano Bruno – nicht weniger militant vorging als der orthodoxe Islam, der noch heute Religionskritikerinnen und Religionskritiker wie Taslima Nasreen, Ayaan Hirsi Ali, Mina Ahadi, Salman Rushdie oder Ibn Warraq mit dem Tode bedroht).
    Innerhalb des religiösen Memplexes sind solche militanten Reaktionen durchaus nachvollziehbar: Denn wenn man sich selbst im Besitz der von Gott offenbarten absoluten Wahrheit wähnt, so ist es logisch, dass jede Kritik an dieser Wahrheit letztlich nur vom Gegenspieler Gottes, dem Teufel und seinen »Mächten der Finsternis« stammen kann. Von daher muss man sich nicht wundern, dass Kritik in einem sehr ursprünglichen, das heißt von aufklärerischen Prinzipien nicht gefilterten, religiösen Kontext keineswegs als produktives Prinzip der Verbesserung der Welterkenntnis verstanden wird, sondern vielmehr als »Inbegriff des Bösen«.
    Völlig anders verhält sich dies im
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