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Jenseits von Gut und Böse

Jenseits von Gut und Böse

Titel: Jenseits von Gut und Böse
Autoren: Michael Schmidt-Salomon
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wenn er auf Kritik stößt, fürchterliche Qualen erleidet und deshalb von seiner Umgebung erwartet, dass sein Weltbild unter »Denk-mal-Schutz« (im wahrsten Sinne des Wortes!) gestellt wird, der verurteilt sich selbst zu intellektueller Stagnation. (Und natürlich erweist er sich dabei auch als zutiefst undankbar gegenüber jenen prachtvollen Menschen, die den Mut hatten, ihm das wunderbare Geschenk der Kritik zu überbringen …)
    Hans Albert hat einmal zu Recht darauf hingewiesen, dass der »Kritizismus«, also das unumwundene Einstehen für die Idee der Kritik, eine regelrechte »Lebensweise« sei und nicht bloß ein »abstraktes Prinzip ohne existenzielle Bedeutung«. 12 Dieser Aussage stimme ich ausdrücklich zu. Doch wenn ich mich nicht sehr irre, schafft erst das Paradigma der Unschuld die Voraussetzungen dafür, dass wir diese »kritizistische Lebensweise« auch tatsächlich im Alltag umsetzen können. Denn nur, wenn wir uns nicht mehr dafür verurteilen, Fehler zu machen, können wir unsere Schwächen vor anderen zugeben. Nur wenn wir die Angst verlieren, von den anderen »entlarvt« zu werden, finden wir die Kraft, vorurteilslos auf sie zuzugehen, uns auf ihre Argumente einzulassen und, sofern diese Argumente stimmig sind, von ihnen zu lernen.
    Das Paradigma der Unschuld führt also nicht nur zu einem entspannteren Ich, sondern auch zu entspannteren Beziehungen . Dazu trägt nicht zuletzt der Umstand bei, dass derjenige, der sich selbst Fehler zugestehen kann, auch weit eher in der Lage ist, anderen ihre Fehler nachzusehen. Wie weit diese Fähigkeit zur Vergebung gehen kann, zeigt der folgende Abschnitt.
Vergeben statt vergelten: Warum wir lernen sollten, einander zu verzeihen
    Am Neujahrsmorgen 1996 erhielt Everett Worthington einen verstörenden Anruf von seinem Bruder Mike. Etwas Schreckliches war geschehen: Everetts und Mikes Mutter war in der Silvesternacht ermordet worden. Mike hatte ihren geschundenen Körper am Neujahrsmorgen gefunden. Die Wände des Hauses waren mit Blut beschmiert, sie selbst lag in einer großen Blutlache. Offensichtlich hatten Jugendliche die alte Dame mit einem Brecheisen und einem Baseballschläger erschlagen, mit einer Weinflasche vergewaltigt und anschließend ihr Haus demoliert.
    Man kann sich etwa vorstellen, was in Everett Worthington in diesen ersten Tagen und Wochen des Jahres 1996 vorging. Alles beherrschend war zweifellos die Trauer über den Verlust der geliebten Mutter. Dazu gesellte sich die quälende Vorstellung, was sie in diesen letzten schrecklichen Momenten ihres Lebens durchgemacht haben musste. Dieses Mitgefühl wiederum war verbunden mit Gefühlen der Wut und des Zorns über die Täter, die der Mutter so etwas Grausames angetan hatten, vermutlich regte sich in ihm auch der Wunsch nach Rache und Vergeltung.
    Viele Menschen können solch traumatische Erfahrungen ihr Leben lang nicht verarbeiten. Vor allem wenn – wie in diesem Fall – die Täter nicht gefasst und zur Rechenschaft gezogen werden können, hadern Menschen lange mit ihrem Schicksal und leiden unter einer nachhaltigen Verletzung ihres Gerechtigkeitsempfindens. Everett Worthington jedoch war kein gewöhnliches Verbrechensopfer. Der Psychologieprofessor an der Virginia Commonwealth University hatte sich seit Anfang der Neunzigerjahre intensiv mit den psychologischen Wirkungen von Rache und Vergebung auseinandergesetzt. Worthington wusste wie kaum ein anderer, dass Rachegefühle nicht nur die psychische, sondern auch die physische Gesundheit beschädigen und dass die Kunst des Vergebens eines der wirksamsten Instrumente zur Verarbeitung einer traumatischen Erfahrung ist.
    Worthington beschloss daher, das Beste aus der schrecklichen Situation zu machen und daran zu arbeiten, den Mördern seiner Mutter zu vergeben. Dies war ein harter, schmerzlicher Prozess, doch nach einigen Wochen hatte er es tatsächlich geschafft: Er empfand keinerlei Wut, Zorn, Groll oder gar Rachedurst mehr gegenüber den Mördern seiner Mutter. Worthington hatte ihnen vergeben, was er daran erkannte, dass die Gefühle von Bitterkeit und Zerrissenheit, die ihn zuvor geplagt hatten, nun verschwunden waren.
    Worthington beschrieb den Prozess seiner Selbstheilung in dem Buch Five Steps to Forgiveness ( Die fünf Stufen zur Vergebung ). 13 Um sein Konzept griffig zu machen, fasste er die Methode unter dem Begriff »REACH« (»Die Hand ausstrecken«), wobei jeder der fünf Buchstaben von REACH einen Schritt im Prozess des
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