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Jenseits von Gut und Böse

Jenseits von Gut und Böse

Titel: Jenseits von Gut und Böse
Autoren: Michael Schmidt-Salomon
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gemeinsamen Kräften voranschreiten.« 22
    In der Folge kündigten die Biehls ihre lukrativen Jobs in Kalifornien und gründeten in Kapstadt die Amy Biehl Foundation, die mit vielfältigen Bildungs- und Freizeitangeboten Jugendlichen zu einem besseren Start ins Leben verhilft. Schon dies allein wäre bemerkenswert genug, doch das wirklich Atemberaubende an dieser Geschichte ist, dass zwei der jungen Männer, die Amy einst töteten, heute zu den führenden Aktivisten der Stiftung gehören. Der Aussöhnungsprozess der Biehls mit den Mördern ihrer Tochter ging so weit, dass sie ihnen nicht bloß vergaben, sondern sich über die Jahre hinweg mit ihnen derartig anfreundeten, dass Ntobeko Peni and Easy Nofemela Linda Biehl heute mit »Mom« (!) ansprechen.
    Wer selbst Kinder hat, weiß, dass es keine schrecklichere Vorstellung gibt als die, die eigenen Töchter oder Söhne zu verlieren, zumal, wenn dies auf solch grausame Weise geschieht, wie dies bei Amy der Fall war, die auf offener Straße gesteinigt und niedergestochen wurde. Man muss sich dies vergegenwärtigen, um die nahezu unglaubliche Vergebungsleistung von Linda und Peter Biehl angemessen würdigen zu können. 23 Es gelang ihnen, auch wenn dies ein langer schmerzlicher Prozess war, in bewundernswerter Weise, das Beste aus einer schrecklichen Situation zu machen. Indem sie den Verantwortlichen der Ermordung ihrer Tochter die Hände reichten, halfen sie nicht nur sich selbst, sondern auch den Tätern und ihren Familien. Gemeinsam mit Ntobeko Peni und Easy Nofemela, die seit Jahren mit großem Einsatz in der Amy Biehl Foundation mitarbeiten, leisteten sie einen bedeutenden Beitrag dazu, die Spirale der Gewalt in Südafrika zu durchbrechen.
    Wie gelang es den Biehls, die Kraft zu entwickeln, den Mördern ihrer Tochter zu verzeihen? Peter und Linda Biehl gaben, wenn sie hierzu befragt wurden, keine religiösen, sondern politische Gründe an. Sie fühlten sich der Menschenrechtsidee verpflichtet, der auch ihre Tochter gefolgt war. Das Beispiel Nelson Mandelas, der nach siebenundzwanzig Jahren Haft nicht Rache nahm, sondern einen Versöhnungsprozess anstieß, gab ihnen zusätzliche Kraft. Entscheidend jedoch war, dass sie die Chance hatten, sich mit den Menschen auseinanderzusetzten, die ihnen das Schreckliche angetan hatten. Sie lernten die vielfältigen Ursachen kennen, die letztlich zum Tod ihrer Tochter geführt hatten. Und so gelangten sie schließlich zu der Erkenntnis, dass sich Ntobeko Peni und Easy Nofemela vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Lebenserfahrungen im Township gar nicht anders verhalten konnten, als sie sich an jenem verhängnisvollen 25. August 1993 verhalten hatten, an dem Amy Biehl auf solch tragische Weise ums Leben kam. Dieses Wissen um die eigentlichen Hintergründe der Tat gab den Biehls die Kraft zu verzeihen.
    An diesem Punkt zeigt sich, warum das Paradigma der Unschuld so ungemein hilfreich ist, um uns in der Kunst des Vergebens zu unterstützen. Warum? Weil jede Schandtat noch um einiges schändlicher wird, wenn wir davon ausgehen, dass sich der Täter/die Täterin frei zu ihr entschieden hat. Wie auch könnten wir jemandem verzeihen, der sich »frei«, ohne objektive Ursachen, dazu entschlossen hat, uns zu betrügen, zu verletzen oder gar uns unseres Kindes zu berauben? Nur wenn wir die vielfältigen Determinanten berücksichtigen, die zu einer Tat geführt haben, wenn wir erkennen, dass die Täter immer auch Opfer der Geschichte sind, haben wir eine Chance, den verheerenden Kreislauf von Schuld, Sühne, Rache zu durchbrechen.
    Dies ist wohl auch der Grund dafür, warum Albert Einstein die Aufhebung der Willensfreiheitsidee »beim Erleiden der Härten« des Lebens als »Trost« und als »unerschöpfliche Quelle der Toleranz« empfand. Man kann diese Wirkung des Unschuldparadigmas vielleicht am besten mit einem alten lateinischen Sinnspruch erklären: » Homo sum, humani nihil a me alienum puto – Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd . «
    Bin ich mir im Klaren darüber, wie viele unkontrollierbare Faktoren am Zustandekommen dieses meines eigenen Ichs beteiligt waren, so weiß ich auch, dass unter anderen Bedingungsfaktoren aus dem Kind, das meine Mutter zur Welt brachte, ein ganz anderer Mensch hätte werden können. Schon kleinste Veränderungen im genetischen Code oder ein Sauerstoffmangel bei der Geburt hätten dazu geführt, dass dieses andere Ich heute keine Bücher schreiben, sondern Kugelschreiber in einer
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