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Jenseits des Mondes

Jenseits des Mondes

Titel: Jenseits des Mondes
Autoren: Heather Terrell
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bietet sich die Chance eines Neubeginns. Zusammen können wir eine Welt erschaffen, die der Menschen würdig ist. Wir gemeinsam, Vater und Tochter.«
    Vater und Tochter. Das klang so schön, so unglaublich verlockend. Ich starrte Semjaza an und konnte die Glückseligkeit in seinem Gesicht nicht vergessen, als er in die Augen seines neugeborenen Kindes geschaut hatte – in meine Augen. Ich wollte nichts so sehr, wie bei ihm zu sein. Ich wollte seine Hand nehmen und die einsame, undankbare Aufgabe, die man mir aufgebürdet hatte, einfach abschütteln.
    Eine Aufgabe, die mir mit einem Mal nicht mehr so einleuchtend erschien. Ich konnte einfach nicht glauben, dass Semjaza böse war. Hatte ich die ganze Zeit über auf der falschen Seite gestanden? Vielleicht hatten die Gefallenen das Richtige getan, als sie Gottes Befehle missachtet hatten. Schließlich hatten sie den Menschen ja nicht nur Schlechtes beigebracht, sondern auch sehr viel Gutes. Und wieso sollten Wissen und Liebe eine Sünde sein?
    Auf einmal war nichts mehr so schwarzweiß wie am Anfang. Und wenn ich nicht mehr wusste, was richtig war, wie sollte ich dann Semjaza töten können – meinen eigenen Vater?
    Ich spürte, wie seine Gefühle und seine Argumente mich zu überzeugen begannen. Mein Mund öffnete sich, und fast, fast hätte ich ja gesagt.
    Aber dann hörte ich das Echo von Rafes Stimme in meinem Kopf und spürte die Gewissheit, die seine Worte mir gegeben hatten. Ich durfte all das Böse, das ich in den Seelen der anderen Gefallenen gesehen hatte, nicht außer Acht lassen. Oder die Tatsache, dass Michael im Begriff war, vor meinen Augen zu einem wohlmeinenden Tyrannen und damit zu einer Version von Semjaza zu mutieren. Und was am allerwichtigsten war: Ich durfte meine Augen nicht vor den anderen, dunkleren Bildern verschließen, die ich in Semjazas Vision gesehen hatte. Bilder, für die er selbst blind war.
    Semjaza glaubte wirklich, dass er aus Liebe zu den Menschen handelte, da er ihnen mit Achtung und Respekt begegnete. In Wahrheit aber wusste er gar nicht, was es hieß, andere zu lieben. Er liebte sich selbst – seine göttliche Macht, Neues zu schaffen und über andere zu herrschen – und die Bewunderung, die er in den Augen der Menschen sah. Semjaza diente sich selbst, nicht den Menschen und mit Sicherheit nicht dem Guten. Das Böse hatte viele verschiedene Gesichter. Eines davon war Semjazas blinde Selbstverliebtheit.
    Das wundervolle Bild, das er in mir heraufbeschworen hatte, kam mir auf einmal schäbig und beschmutzt vor. Obwohl es mir fast das Herz brach, wusste ich, was ich tun musste. Rafe hatte mich vorgewarnt, aber ich hatte keine Ahnung gehabt, dass es so schwer werden würde.
    Michael stand immer noch neben mir. Ich nahm seine Hand.
    »Liebst du mich noch?«, fragte ich.
    »Mehr als jemals zuvor.«
    Ich blickte ihm forschend in die Augen und sah darin, dass seine Gefühle für mich echt waren. Ob die Aussicht auf seine neue Rolle und die Vorstellung, mit mir zusammen über die Welt zu herrschen, ihn irgendwie beeinflussten, konnte ich nicht erkennen. Ich musste einfach darauf bauen, dass seine Liebe zu mir stärker war als seine Eitelkeit. Denn das, was ich gleich tun würde, konnte ich nicht tun, ohne dass er hinter mir stand.
    »Glaubst du, dass ich nur das Beste will?«
    Er hob fragend die Brauen. »Natürlich, Ellie.«
    »Vertraust du mir, Michael?«
    »Immer.«
    »Wenn ich verspreche, nachher alles zu tun, was du sagst, versprichst du dann, jetzt zu tun, was ich sage?«
    Er zögerte einen Sekundenbruchteil, dann antwortete er: »Ja. Versprochen.«
    Was blieb mir übrig? Ich musste ihm vertrauen, Zögern hin oder her.
    »Dann komm.«
    Hand in Hand gingen wir auf Semjaza zu, bis wir direkt vor ihm standen. Als ich seine schimmernden blauen Augen, sein rabenschwarzes Haar, seine helle Haut aus nächster Nähe sah, wurde mir die Kehle eng, und ich konnte nicht sprechen. Ich wusste, sobald ich den Mund aufmachte, wäre es vorbei mit meiner Entschlossenheit. Das durfte auf keinen Fall passieren.
    Ich ließ Michaels Hand los und streckte den rechten Arm nach oben aus. Ich schloss die Augen, konzentrierte mein ganzes Sein auf diese eine Aufgabe und stellte mir vor, wie ein Lichtstrahl aus meiner Hand entströmte. Ich spürte die Hitze, die meine Fingerspitzen abstrahlten, und öffnete die Augen. In der Hand hielt ich das Schwert aus Feuer.
    Die Klinge schwebte dicht über Semjaza. Meinem Vater. Dem letzten Engel der Apokalypse.
    Ich
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