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Jenseits des Mondes

Jenseits des Mondes

Titel: Jenseits des Mondes
Autoren: Heather Terrell
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sein.

Sechsundvierzig

    O nein, auf keinen Fall. Nicht mein Michael. Er konnte nicht Michael meinen.
    »Begreifst du jetzt, mein über alles geliebtes Kind? Du bist die Auserwählte, und Michael ist das siebte Siegel. Gemeinsam werden wir über die neue Welt herrschen, und gemeinsam werden wir sie zu einem herrlichen, wundervollen Ort umgestalten.«
    Und ob ich begriff. Ich begriff, dass Semjaza seit unserer Rückkehr aus Boston genau die Charakterschwäche ausgenutzt hatte, die Michael verwundbar machte. Dieselbe Schwäche, die schon den ursprünglichen zweihundert Engeln zum Verhängnis geworden war, als sie von Gott auf die Erde gesandt worden waren. Dieselbe Schwäche, die Semjaza selbst offenbar in rauen Mengen besaß: Stolz.
    Als ich Michael erneut ansah, wusste ich genau, was an ihm so anders war. Er platzte schier vor Stolz bei der Aussicht auf die Weltherrschaft. Das war doch um Längen besser, als immer bloß der Sidekick der Auserwählten zu sein.
    Ich schwieg. Ich brauchte all meine geistigen Fähigkeiten, um diese Wendung zu verarbeiten und nicht einfach zusammenzubrechen. Wer war diese … Kreatur, die sich mein Vater nannte?
    Semjaza kam auf mich zu. Seine hellen blauen Augen schimmerten vor Mitgefühl und Zärtlichkeit. Die Gefühle waren so stark, dass ich den Blick nicht von ihm losreißen konnte. »Mein liebstes Kind, ich weiß, wie verwirrend all dies für dich sein muss. Dir wurde gesagt, ich sei dein Feind. Aber ich bin nicht der, für den du mich hältst, und die neue Welt, von der ich immer geträumt habe, muss nicht die Hölle aus Korruption, Gier und Gewalt sein, die du in den Seelen der anderen Gefallenen gesehen hast. Ich bin nicht wie sie, und die Erde, die wir gemeinsam erschaffen werden, wird anders sein als die, nach der die anderen Gefallenen seit Jahrtausenden streben. Sie wird ein Ort des Guten sein.«
    Ich sah, dass Semjaza wirklich glaubte, was er sagte. Er war anders als die Gefallenen, mit denen ich es bis jetzt zu tun bekommen hatte. Aber wie sah diese Welt aus, von der er sprach? Was genau war seine Vorstellung des Guten?
    Während ich mit diesen Fragen und Zweifeln kämpfte, nutzte Semjaza den Moment, mich zu berühren. Die Bilder, die ich sah, brachten mich zum Staunen, so atemberaubend waren sie. Ich sah eine Zeit, die so anders, so fremdartig und geheimnisvoll war, dass sie nur der Anfang der Zeit sein konnte. Ich sah Semjaza in all seiner überirdischen Schönheit, wie er in die Augen einer jungen Frau blickte, die bewundernd zu ihm aufsah. Ich sah, wie verzaubert Semjaza von ihrer Unschuld war und wie er das Staunen in ihren Augen auskostete, als er sie in die Geheimnisse der Erde und des Himmels einweihte. Ich sah den Moment, in dem die Engel fielen; den Augenblick, in dem meine Eltern eins wurden; den Augenblick meiner Geburt.
    Die Bilder lösten tausend Fragen in mir aus. Ich spürte die überwältigenden Gefühle, die Semjaza für mich als Neugeborenes empfunden hatte. Wie hatte er mich je aufgeben können? Hatte meine leibliche Mutter durch Zufall Daniel und Hananel kennengelernt, und sie hatten mich ihm weggenommen? Wie war es ihm und meiner leiblichen Mutter angesichts des göttlichen Verbots überhaupt gelungen, mich zu zeugen?
    Semjaza ließ meine Hand los und sagte: »Verstehst du nun, Ellspeth, mein Liebling?«
    »Ja, ich verstehe«, antwortete ich heiser. Ich verstand, dass mein Vater meine Mutter tatsächlich – auf seine Weise – geliebt hatte, so, wie meine Eltern es mir gesagt hatten. Und ich verstand, dass er auch mich liebte. Die Bilder waren so überwältigend, so voll tiefer Emotionen, dass ich anfing zu weinen. Michael nahm mich tröstend in die Arme, obwohl er gar nicht wusste, was ich gesehen hatte.
    Semjaza wirkte erleichtert. »Nun verstehst du alles, nicht wahr, mein liebes Kind? Du wurdest Zeuge meiner aufrichtigen Liebe für die Menschheit. Siehst du nun, dass der Schöpfer unrecht hatte? Was ist so schlimm daran, unser göttliches Wissen mit den Menschen zu teilen? Was ist so verwerflich an dem, was wir getan haben? Es ist nicht böse, die Menschen zu lieben und ihrer Unschuld zu huldigen, wie wir es zu Anbeginn taten und wie ich es auch weiterhin tun will. Es ist keine Sünde, die Geheimnisse des Universums mit ihnen zu teilen. Es ist gut. Gottes Hybris allein ist es, die Ihn sagen lässt, wir dürften nur Ihn lieben und verehren. Seine Hybris ist der Grund für unseren Fall.«
    Er hielt kurz inne, dann fügte er hinzu: »Ellspeth, uns
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