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Jede Sekunde zählt (German Edition)

Jede Sekunde zählt (German Edition)

Titel: Jede Sekunde zählt (German Edition)
Autoren: Lance Armstrong , Sally Jenkins
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Leuchttisch lagen Röntgenaufnahmen meines Brustkorbs. Schwarz bedeutete gesund, weiß Krebs. Mein Brustkorb sah aus wie ein Schneesturm.
    Womit ich mich damals nicht auseinander setzte und nicht auseinander setzen konnte, war die Aussicht auf Leben. Sobald man weiß, dass man weiterleben wird, muss man sich Gedanken darüber machen, wie man leben will, und das ist alles andere als einfach. Du fragst dich: Was werde ich nun, da ich weiß, dass ich nicht sterben werde, tun? Wie kann ich mein Leben am besten und vollkommensten gestalten? Solche Dinge sind nicht linear, sie sind eine mysteriöse Gleichung. Mich selbst am besten zu leben bedeutet für mich, ander Tour de France teilzunehmen, dem mörderischsten Sportereignis der Welt.
    Mit jedem Tourgewinn beweise ich mir, dass ich am Leben bin – und damit, dass andere auch überleben können. Ich habe den Krebs überlebt, wieder und wieder und wieder und wieder. Ich habe die Tour inzwischen fünfmal gewonnen, und es würde mir gar nichts ausmachen, den Tourrekord zu brechen und sie 2004 ein sechstes Mal zu gewinnen. Das wäre ein ziemlich gutes Leben.
    Tatsache aber ist, dass ich ohne meine Krankheit nicht eine einzige Tour de France gewonnen hätte. Meine Krankheit hat mich eines gelehrt: Der Schmerz geht vorüber. Aufgeben ist etwas für immer.
    Für mich ist es schon ein Beweis des Überlebens, die Tour de France nur zu Ende zu fahren. Die Härte des Rennens, der schiere Irrsinn des Jobs, das Durchqueren eines ganzen Landes auf dem Fahrrad, Dorf für Dorf, an seinen Küsten vorbei, über seine Brücken, hinauf und über Berggipfel, die sie Cols nennen, erfordert ein beispielloses Stehvermögen. »Der Schnee vor meinen Augen ist schwarz geworden«, meinte der holländische Radrennfahrer Hennie Kuiper nach einem langen Anstieg in den Alpen einmal. So anstrengend ist die Tour. Die Tour durchzustehen verlangt ein Stehvermögen, wie es jemand braucht, der jeden Tag krank ist. Die Tour ist ein tagtägliches Drama des menschlichen Leidens, der kleinen Tragödien und Komödien, aufgeführt vor dem Hintergrund der Elemente, das Wetter ist manchmal unerbittlich, manchmal freundlich, die Tour führt durch lange Ebenen und in den Gegenwind hinein, und immer wieder Stürze. Und das alles drei lange Wochen lang. Was haben Sie vor drei Wochen gemacht? Es erscheint einem, als sei das alles letztes Jahr gewesen.
    Die Tour ist in vielerlei Hinsicht wie das Leben – abgesehen davon, dass die Konsequenzen nicht so endgültig sind und am Ende ein Preis auf einen wartet. Das Leben ist nicht so nett.
    Auch für mich hielt es kein Happy End bereit. Ich habe denKrebs besiegt und mit dem Gewinn der Tour 1999 ein erfolgreiches Comeback als Radrennfahrer geschafft. Aber das war weniger ein Ende als vielmehr ein Neuanfang. Mein Leben ging auch danach weiter, und manchmal nicht sehr klar, nicht sehr bequem und nicht sehr siegreich. In den nächsten fünf Jahren zeugte ich drei Kinder, unterzog mich (buchstäblich) Hunderten von Dopingtests, brach mir das Genick (buchstäblich), gewann etliche Rennen, verlor andere und musste miterleben, wie meine Ehe in die Brüche ging. Und das war noch lange nicht alles.
    Wer das Haus der Armstrongs betritt, sieht zuerst eines: Kinder. Kristin (Kik) Richard und ich bekamen Luke im Herbst 1999 kurz nach dieser ersten Tour, zwei Jahre später im Herbst 2001 die Zwillinge. Grace und Isabelle haben große blaue Augen und krabbeln so schnell über den Fußboden, dass man seinen Augen kaum traut. Besonders gern ziehen sie sich an etwas Beliebigem in die Höhe, halten sich schwankend aufrecht und stellen unglaublichen Unsinn an. Eines von Isabelles Lieblingsspielen ist es, sich zur Spüle hochzuziehen und den Hahn zu öffnen, bis die Küche unter Wasser steht, und dabei hysterisch zu lachen. Mein »Nein, nein, nein« quittiert sie mit heftigem Kopfnicken und lacht weiter, während das Wasser über den Küchenboden läuft. Ich kann es kaum erwarten, bis sie Teenager werden.
    Luke trägt sein Teil zum allgemeinen Chaos bei, indem er mit dem Rad durch das Wohnzimmer kurvt, ein paar Runden in seinem Bobbycar dreht oder die Mädchen in einem roten Anhänger hinter sich her zieht. Luke ist kräftig und dickköpfig. Seinen Radhelm trägt er auch im Haus, und selbst wenn wir zum Essen ausgehen, weigert er sich, ihn abzunehmen. Das beschert uns zwar jede Menge neugierige Blicke – aber alles ist besser als der Kampf, der unweigerlich ausbricht, wenn man ihm den Helm
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