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Jede Sekunde zählt (German Edition)

Jede Sekunde zählt (German Edition)

Titel: Jede Sekunde zählt (German Edition)
Autoren: Lance Armstrong , Sally Jenkins
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abnehmen will. Luke besteht darauf, ihn zu tragen, es könnte ja sein, dass er mit mir Rad fahren gehen darf. Für ihn ist eine Straße das, womit sein Vater seinen Lebensunterhalt verdient. Ich bin so viel auf der Straße, dass er »Daddy« sagt, wenn das Telefon klingelt.
    Eines Nachmittags fuhr ich zum Flughafen, um meine Familie abzuholen. Luke sah mich lange an. Dann sagte er: »Daddy, du siehst aus wie ich.«
    »Was? Ich sehe aus wie du?«, sagte ich.
    »Yeah.«
    »Bist du sicher, dass es nicht andersherum ist?«
    »Yeah, ganz sicher. Du bist es, der aussieht wie ich.«
    In unserem Haus leben auch noch eine Katze namens »Chemo« und ein kleiner weißer Hund, der auf den Namen »Boone« hört. Immerzu muss ich aufpassen, wo ich meine Füße hinsetze, um nicht auf ein Kind oder einen Vierbeiner zu treten. Die letzten Jahre waren ziemlich chaotisch, und ganz ohne Verluste gingen sie auch nicht vorüber. Wir fütterten viele Kinder und Erwachsene und Tiere, da kam manchmal schon etwas durcheinander, und der Hund stand am Ende vor einem Napf voller Babybrei. Eines Tages reichte Kik mir ein Glas mit, wie sie meinte, Wasser.
    »Das schmeckt wie Sprite«, protestierte ich.
    »Trink es einfach«, meinte sie.
    Und dann war da noch die Sache mit den Schlüsseln. Nie, so schien es, fand ich den richtigen Schlüssel. Gelegentlich zog ich meinen Schlüsselbund aus der Tasche, starrte auf die, wie es mir vorkam, Hunderte von Schlüsseln und sagte zu Kik: »Ich habe die Schlüssel zur ganzen Welt.« Worauf sie zurückgab: »Perfekt.«
    Warum ich so viele Schlüssel habe? Weil ich in so vielen Ländern Wohnungen und Fahrzeuge besitze. Den größten Teil des Frühjahrs und Sommers verbringe ich in meinem Haus im spanischen Gerona, während ich mich auf die Tour vorbereite. Wenn die Radrennsaison vorüber ist, kehre ich zurück nach Austin. Unsere Familie lebt in einem Haus im Zentrum von Austin, und dann habe ich da noch die Ranch draußen in den Bergen. Mein Lieblingshaus aber ist mein kleines Versteck, eine Hütte mit nur einem Zimmer in den Hügeln am Stadtrand von Austin mit Blick auf den Colorado. Am Flussufer steht eine alte, gebeugte Eiche, von der eine Seilschaukel herunterhängt. Ich liebe es, an heißenTagen mit dem Seil über das Wasser zu schwingen und mich in die Strömung fallen zu lassen.
    Ich liebe den Tumult, der in meiner großen Familie herrscht, und musste mir schon vorhalten lassen, selbst ein gerüttelt Maß dazu beizutragen, weil ich Ruhe und Frieden auf Dauer nicht ertragen könne. Nun, ich bin von Geburt an unfähig gewesen, stillzusitzen; ich sehne mich nach Action, und wenn es keine gibt, dann erfinde ich eben welche.
    Meine Freunde nennen mich »Mellow Johnny«, ein Wortspiel mit dem französischen Ausdruck für den Spitzenreiter der Tour de France, der traditionell ein gelbes Trikot trägt, das Maillot Jaune, was Texaner, so scherzen wir gerne, wie Mellow Johnny aussprechen. Gleichzeitig ist der Name eine Anspielung auf meine gar nicht so gelassene Persönlichkeit [ mellow = gelassen, ruhig]. So oder so, ich bin Mellow Johnny, oder Johnny Mellow, oder, wenn Sie es förmlicher haben möchten, Jonathan Mellow.
    Manchmal werde ich auch einfach »Bike Boy« genannt. Ich fahre fast jeden Tag Rad, auch außerhalb der Saison und bei jedem Wetter. Selbst wenn es hagelt, hocken meine Freunde und Trainingspartner zu Hause und fürchten sich vor dem Anruf, von dem sie wissen, dass er kommen wird: Sie nehmen den Hörer ab, und am anderen Ende ist Bike Boy und will wissen: »Fährst du oder sumpfst du?«
    An einem legendären Novembertag außerhalb der Saison fuhr ich geschlagene viereinhalb Stunden durch einen der schlimmsten Gewitterstürme in Austin seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Ein Niederschlag von 18 Zentimetern, Überflutungen, und überall waren Straßen gesperrt. Ich liebte es. Die Leute halten mich natürlich für verrückt. Aber sobald ich auf dem Rad sitze, fühle ich mich wieder wie 13. Ich rase nicht mehr so oft über rote Ampeln, aber sonst hat sich nichts geändert.
    An manchen Tagen dagegen fühle ich mich viel älter als ein Mann in den Dreißigern; so als hätte ich schon viel länger gelebt. Das wird wohl der Krebs sein. Ich habe lange darüber nachgedacht,was er mir angetan hat – wie er mich älter gemacht, verändert hat –, und bin schließlich zu der Erkenntnis gelangt, dass er nicht nur meinen Körper, sondern auch meinen Geist verändert hat.
    Ich sage oft, dass der Krebs das
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