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Jede Sekunde zählt (German Edition)

Jede Sekunde zählt (German Edition)

Titel: Jede Sekunde zählt (German Edition)
Autoren: Lance Armstrong , Sally Jenkins
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ich überlebt hatte, und wenn ich überlebt hatte, dann konnten andere das auch. Mehr noch, es zeigte ihnen, dass sie den Rest ihres Lebens normal, wenn nicht sogar besser als zuvor, leben konnten.
    Das war eine wichtige Botschaft für alle Krebskranken, und zwar auch für die Familien, Ärzte und Krankenschwestern, die mit der Krankheit zu tun hatten. Die Ärzte wussten, wie hoffnungslos meine Lage und wie auszehrend meine vier Chemotherapie-Zyklen gewesen waren, und sie wussten, dass a) ich es überlebt hatte und b) die Behandlung meinen Körper nicht ruiniert hatte. Das gab ihnen Anlass zur Hoffnung, und wie mir schien, brauchten die Ärzte ebenso sehr Hoffnung wie ihre Patienten.
    Sie wollten mich als Beispiel benutzen, und ich wollte mich benutzen lassen. Aber ich wollte auf die richtige Art und Weise benutztwerden. Der Ausdruck »Held« war mir überaus unangenehm – den Krebs zu überleben hat ganz und gar nichts Heroisches an sich. Niemand ist immun dagegen; acht Millionen Amerikaner leiden an der einen oder anderen Form von Krebs, und rund eine Million erkranken jedes Jahr neu daran. Wie ihnen allen hatte das Schicksal mir schlechte Karten gegeben, und ich tat einfach das, was für mich das Natürlichste war: Ich kämpfte.
    Ich traf die unterschiedlichsten Menschen, die gegen die Krankheit kämpften, gelb und ausgezehrt von der Chemotherapie. Besuchen Sie Sloan-Kettering in New York, M. D. Anderson in Houston oder die Southwest Regional Cancer Clinic in Austin, und Sie sehen sie, 50 oder 60 Leute in einem Wartezimmer mit nur 30 Stühlen, Menschen wie sie unterschiedlicher gar nicht sein könnten, und eine Hand voll Krankenschwestern mit versteinerten Gesichtern.
    Krebspatienten kamen auf mich zu und wollten alles wissen, was ich getan hatte, jedes Medikament, das ich genommen, jeden Happen, den ich gegessen hatte.
    »Wie war deine Chemo?«
    »Was hast du gegessen?«
    »Welche Vitamine hast du genommen?«
    »Wie oft bist du Rad gefahren?«
    Ich war eine Erfolgsstory – zumindest für den Moment. Sollte ich erneut erkranken, wäre die Erfolgsstory sofort vorbei, und um die Wahrheit zu sagen, manchmal war ich ebenso besorgt und verängstigt wie die Leute, die Krebs hatten: Was, wenn der Krebs zurückkehren würde? Jedes Mal, wenn ich ein Krankenhaus betrat, überfiel mich ein Gefühl des Unwohlseins. Das Erste, was mir auffiel, war der Geruch. Wenn es darauf ankäme, könnte ich ein Krankenhaus allein am Geruch identifizieren: Desinfektionsmittel, Medikamente, Kantinenfraß und durch alte Luftschächte strömende, abgestandene Luft. Und das Licht: Durchscheinend und grell ließ es alle Menschen blass aussehen, so, als flösse nicht genug Blut in ihren Adern. Die Geräusche waren künstlich undtaten in den Ohren weh, das Quietschen der gummibesohlten Schuhe der Krankenschwestern und, nicht zu vergessen, die Krankenhausmatratzen: Die Matratzen in Krankenhäusern sind mit Plastikschonern bezogen, und ich erinnere mich noch genau daran, wie es sich anfühlte und anhörte, wenn ich im Bett meine Position wechselte, das Knistern des Plastikbezugs unter mir jedes Mal, wenn ich mich bewegte, immer dieses Knistern und Rascheln, Knistern und Rascheln.
    Das sind die Gerüche und Empfindungen und Bilder, die alle Krebspatienten mit sich herumtragen, gleichgültig, wie lange sie die Krankheit schon hinter sich haben, und sie sind so traumatisch, so konzentriert, dass sie noch Jahre später heftige Reaktionen auslösen können.
    Manche Leute werden sogar richtig krank, wenn sie etwas sehen oder riechen, das sie an ihre Krankheit erinnert. Im New England Journal of Medicine, einer medizinischen Fachzeitschrift, stand ein Bericht über eine Frau, die wegen Brustkrebs eine radikale Chemotherapie über sich hatte ergehen lassen müssen und immer wieder von heftigstem Brechreiz heimgesucht worden war. Fünf Jahre später lief sie in einem Einkaufszentrum ihrer Onkologin, der Ärztin, die sie behandelt hatte, über den Weg und musste sich übergeben. Der Krebs verlässt einen niemals ganz. Und das gilt auch für mich.
    Als ich krank war, kämpfte ich mit der Hoffnung darauf, wieder zu meinem Leben zurückkehren zu können. Womit ich mich in dieser Zeit aber nie ernsthaft beschäftigt hatte, war die Frage danach, wie dieses Leben denn aussehen sollte. Der Ausdruck »Leben nach Krebs« kann sehr viel bedeuten: den Verlust eines Beines oder einer Brust oder, wie in meinem Fall, Zeugungsunfähigkeit, einen Karriereknick und tief
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