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Gehwegschäden

Gehwegschäden

Titel: Gehwegschäden
Autoren: H Kuhn
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1. Der Intellectual Fight Club. Von Jesus hat Thomas Frantz gelernt: Der härteste Schlag ist nicht die Gerade, es ist der Haken
    »Achtung mal jetzt.«
    »Kommt mal alle her«, sagt der dicke Daniel. »Stellt euch auf und hört zu. Es gibt neun K.-o.-Schläge. Fangen wir oben an.«
    Der dicke Daniel grinst.
    »Der Schlag zur Schläfe«, sagt er. »Erschüttert den gesamten Schädel. Mit dem rechten oder mit dem linken Haken. Ohne Handschuh ausgeführt, ich sage das zur Vorsicht, mit voller Wucht, das heißt Einsatz des Körpergewichts und des Drehmoments aus der Hüfte – kann das tödlich sein. Vorausgesetzt, die Damen und Herren, wir treffen auch genau. Dazu braucht man gar nicht viel Kraft. Masse mal Geschwindigkeit? Na? Noch im Kopf? Friederike?«
    »Genau. Kraft.«
    Der dicke Daniel grinst.
    Jesus schüttelt den Kopf.
    Nicht das Schach bestimmt das Boxen, das Boxen bestimmt das Schach. Es geht um Kontrolle. Und um nichts anderes geht es hier. Das Adrenalin kontrollieren. Adrenalin schießt in den Kopf. Es sackt beim Boxen in die Beine. Du musst flüchten oder angreifen, auf dem Brett wie im Ring. Der Trick ist: das Adrenalin beim Schach zu kontrollieren. Das ist Schachboxen.
    »Zweitens. Die Kinnspitze. Die Gerade zum Kinn. Klar. Haben wir reichlich geübt. Der Klassiker unter den K.-o.-Punkten.«
    Der dicke Daniel nimmt sich Friederike vor. Er demonstriert den Schlag zu ihrer Kinnspitze in Zeitlupe. Jesus verfolgt seine Bewegungen mit skeptisch großen Augen. Es ist dem kleinen Kubaner anzusehen, dass er anderer Meinung ist.
    In einem Schachbox-Kampf treten zwei Sportler abwechselnd im Schach und im Boxen gegeneinander an, bis durch eine Entscheidung in einer der beiden Disziplinen ein Sieger feststeht. Begonnen wird mit einer Schachrunde. Ein Kampf geht über elf Runden, sechs Runden Schach und fünf Runden Boxen. Eine Schachrunde dauert vier Minuten, die Boxrunde drei Minuten. Zwischen den Runden liegt eine Pause von einer Minute.
    Der dicke Daniel stellt Friederike zurück in die Reihe.
    »Drittens: der Kehlkopf. Wenn man da eine draufkriegt, sehr schmerzhaft. Die Luft bleibt weg, der Kehlkopf schwillt an. Zum Kotzen. Das tut tagelang weh, man ist am Husten, am Würgen, kann kaum schlucken. Scheußlich.«
    Der dicke Daniel macht eine Leichenbittermiene.
    Jesus will etwas sagen, aber der dicke Daniel würgt ihn mit einer Handbewegung ab. Jesus stellt sich an ein Wandpolster. Er ist beleidigt.
    Die jeweilige Schachrunde hat keinen Einfluss auf die nächste Boxrunde. Die Boxrunde hat einen sehr direkten Einfluss auf die nächste Schachrunde. Nach drei Minuten im Ring ist der Körper auf achttausend Umdrehungen. Die Muskeln sind derart übersäuert, dass man kaum noch die Arme heben kann. Man nennt diesen Zustand blau. Das Gehirn hat Erschütterungen mit einer Gewalt zwischen 150 und 320 Kilogramm oder einer Geschwindigkeit von 180 bis 340 Stundenkilometern ausgehalten. Das entspricht dem Gewicht eines Ochsen oder einem Tornado der Stufe drei. Gleichzeitig produziert das Nebennierenmark Adrenalin mit dem Ehrgeiz eines Dampfstrahlers, weil es denkt, es wird abgeschlachtet. Es fällt schwer, sich in diesem Zustand auf etwas von der Größe eines Krippenjesus auf einem irritierenden Muster zu konzentrieren.
    »Viertens: die Halsschlagader. Seht ihr? Hier?«
    Der dicke Daniel haut sich selbst an den Hals.
    Jesus beginnt seinen Tanz am Wandpolster mit leichten Schritten.
    Ein Schachboxkampf endet durch Schachmatt, K.o., Ablauf der Bedenkzeit, Disqualifikation oder Aufgabe. Endet das Schachspiel remis, entscheidet die Punktwertung im Boxen. Endet auch der Boxkampf unentschieden, gewinnt der Kämpfer mit den schwarzen Figuren. Wenn das Schachbrett nach der Boxrunde in den Ring getragen und dort aufgebaut wird, hat man seinen letzten Zug vergessen. Man schnappt nur noch nach Luft. Man hat alles vergessen. Manchmal sogar seinen Namen.
    Der dicke Daniel drückt sein Kinn auf die Brust und hält dabei seine Hornbrille mit dem Handschuh fest.
    Jesus kontert abseits mit leichten Schlägen. Jab, Gerade, links, rechts, Aufwärtshaken.
    »Ra-ra-ra-ra!«
    »Also. Warum halten wir Boxer den Kopf immer tief? So? Und niemals hoch?«
    Er klingt wie Donald Duck.
    »Damit man uns nicht am Kehlkopf oder an der Halsschlagader trifft!«
    Der dicke Daniel nimmt den Kopf hoch und klingt wieder normal.
    »Immer darauf achten. Niemals den Kopf hochnehmen, ich weiß, das ist ein natürlicher Reflex, ich will dem Schlag ja ausweichen, von
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