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Gehwegschäden

Gehwegschäden

Titel: Gehwegschäden
Autoren: H Kuhn
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Schönhauser Allee, nicht weit von der Torstraße entfernt, da ist das Haus, wo sich Frantz verkrochen hat.
    1.–3. Etage: Hotel Europa, DZ 55 EUR, EZ mit Du/WC 40 EUR, EZ ohne Du/WC 35 EUR, für jede weitere Person 10 EUR, für einen Hund 5 EUR. Saalvermietungen, Hochzeit, Trauerfall, Verein bis 80 Personen, und schon ist alles im Leben gesagt und nichts ausgelassen. Das Linoleum riecht nach Salmiak und die Kissen nach den Träumen derer, die darauf schliefen.
    Im Vorderhaus, 4. Etage: Praxis für Psychotherapie und Coaching sowie Psychiatrischer Verband PrenzlBANDE und Erste Berliner Psychiatrische Vereinigung gegen Gewalt. Dort kracht es gewaltig. Dort übt man mit Patienten das Werfen von Sandsäcken auf den Boden, auf die Matte, schön so, Jungs, gut gemacht, weiter so, Skinheads, Türsteher, Türkengangs, Petty Crime sowie häusliche Gewalt, einhergehend mit befreiendem Schreien vor, während oder nach simuliert gewaltkritischer Situation, lasst mal so richtig los, Jungs, nur keine Hemmungen, haut ordentlich rein, das könnt ihr doch, oberste Etage (96 m², Kü, Bad, Balkon, Laminat) daher wieder teilgewerblich zu vermieten. Seitenflügel Erdgeschoss links wie rechts Webhosting, Domain Services, Server Housing, Connectivity, E-Commerce, Business solutions & All we are saying is give peace a chance.
    Seitenflügel, 1. Etage rechts: Herr Ceminsky. Ein Mann in Unterwäsche. Ein Mann mit weißen Haaren, schlechten Zähnen, kräftigen Beinen und einem dicken Bauch. Er geht in seiner Wohnung auf und ab, zwei Zimmer, Küche, Bad. Es riecht faulig in diesen Wänden. Er hört ein dumpfes Krachen, gefolgt von einem martialischen Schrei. Seit einem Jahrzehnt häuft der Mann an. Dinge. Er häuft von einem Zimmer in das andere. Nützliche Dinge. Es ist nur ein kleiner, schmaler Gang übrig geblieben, der es ihm erlaubt, von einem Zimmer in das andere zu gelangen und zur Toilette. Krachen, ein Schrei. Er sucht etwas. Immer wieder läuft er von einem Raum in den anderen durch den schmalen Gang. Manchmal eckt er an. An den Wänden Regale. Seine Arme und Beine übersät von Kratzern und Flecken. In den Regalen: defekte Mixer, defekte Staubsauger, Fernsehapparate und VHS-Videorecorder. VHS kommt wieder, da ist er sicher. Das wird gebraucht werden, in der Zukunft. Haartrockner, Radios, Standuhren, Waschmaschinen, übereinander, hintereinander. Auch dann wollen die Menschen sauber sein. Zylinder, Mischbatterien, Kühlschränke. Das alles wird er einmal reparieren. Gegenwärtig befindet er sich noch in der Phase des Sammelns. Des Anschaffens und Hortens. Tastaturen, Tonbandgeräte. Er baut sich ein Lager auf. Wenn er einmal über genügend Rohstoffe verfügt, wird er in die Phase der Aufarbeitung eintreten. Lampen, Kaffeemaschinen. Wenn diese Phase abgeschlossen ist, wird er alles verkaufen. So etwas braucht Geduld. Ausdauer und eine gewisse Zähigkeit, das kann man dem Mann in Unterwäsche nicht absprechen. Er verfolgt einen Plan. Unruhig läuft er herum. Er sucht etwas. Er wartet auf einen Anruf. Von Olaf. Mit Olaf tauscht er Rohstoffe. Gemeinsam bilden sie ein Netzwerk über ganz Mitte und Prenzlauer Berg. Es sind schon fünf. Olaf, Heidrun, Mahler, der Rollo und er. Gemeinsam durchstreifen sie die Stadt mit Handkarren. Sie beliefern sich gegenseitig mit weggeworfenen Staubsaugerbeuteln und ausgebauten Radiotransistoren. Die anderen verkaufen schon. Er hat einen Plan. Der Mann in Unterwäsche wartet auf einen Anruf und das versprochene Kabel für den Kobold. Erst wenn die Zeit gekommen ist, wird er alles verkaufen. Erst in der Zeit danach. Er sucht nach dem grünen Kobold. Dann werden sie alles brauchen, was er hat. Es fehlt ihm für den grünen Kobold noch der Beutelhalter. Dann baut er sein Imperium auf. So was braucht Zeit. Sein Freund wird bald anrufen, Geduld. Sein Teekessel pfeift. Der Mann in Unterwäsche hustet. Er kramt in seiner Unterhose nach dem Tabaksbeutel, schlägt sich zur Küche durch und ritzt sich an der Steckverbindung einer Schwarzlichtröhre den linken Arm ein Stück auf.
    Seitenflügel, 1. Etage links: Elvira. Gender, Umwelt, Nachhaltigkeit. Ein Teekessel pfeift. Jemand im Haus hustet und flucht. Elvira sitzt vor ihrem Laptop und tippt. »Der Zugang zu sauberem Wasser ist ein Menschenrecht – eine (geschlechter-)gerechte Verteilung eine Menschenpflicht! Dies war eine der wesentlichen Aussagen der Fachtagung Steter Tropfen höhlt den Stein – Frauen im Widerstand für ein Menschenrecht auf Wasser vom 22.
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