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Gehwegschäden

Gehwegschäden

Titel: Gehwegschäden
Autoren: H Kuhn
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ist diese Wucht zu erzeugen.
    »Und … Schlag!«
    Jahrzehnte hat Thomas Frantz geglaubt, geirrt in der Annahme, der härteste Schlag eines Menschen sei die rechte Gerade. Von allen Tritttechniken verschiedener Kampfsportarten einmal abgesehen, denn Tritttechniken haben ihn nie interessiert und außerdem ist er wenig gelenkig und bekäme die Beine gar nicht über die Hüfte hinaus.
    »Und … Schlag!«
    Rasseln. Keuchen. Kehllaute.
    Nein. Es ist der rechte Kopfhaken. Kurz ausgeführt. Nicht der lange Haken auf der Außenbahn, der die Doppeldeckung umgeht. Es ist der Kurze. Der kurze Schlag ist ansatzlos. Kompromisslos. Bedingungslos. Drehung, Verlagerung der Körpermasse, Schnellkraft und Schlag! Man sieht ihn nicht kommen, diesen Schlag. Man kann ihn nicht einmal ahnen. Seit Thomas Frantz diesen Schlag übt, das sind nun schon vier Jahre, hat er beständig daran gefeilt. Er hat es bei diesem Schlag zu einer gewissen Meisterschaft gebracht. Und … Schlag! Dieser Schlag ist der Tod. So stellt er sich das vor.
    »Und … Schlag!«
    Er ist wie berauscht davon.
    »Und Zeit …!«
    – »Ra-ra-ra-ra! Y Dab!«
    Thomas Frantz schnauft. Er schwitzt. Er hört das Keuchen der Boxer. Das Leder des Sacks ist in Höhe seines Gesichtes nass, das Gerät schwingt noch leicht nach, nass von seinem Schweiß, seinem Speichel, Frantz stoppt diese Bewegung und hält ihn fest, seinen Gegner, nass von seiner Ekstase. Er umarmt ihn fast zärtlich.
    Im nächsten Moment sitzen die Schachboxer im Schneidersitz am Boden. Hocken auf den Bänken, im Ring vor ihren Brettern. Die Schachuhren ticken. Thomas Frantz ist konzentriert. Das will gut überlegt sein, und dann schnell gezogen, die gleiche Hand schlägt auf die Uhr, Tack. Die Verabredung ist: ’ne halbe Stunde auf die Fresse hauen ist okay. Tack. Die Verabredung ist: Läuft die Uhr ab, ist’s aus. Tack. Die Verabredung ist: Teil einer Welt zu sein, in der nur der mittelbar nächste Zug zählt. Tack. Mitglied in einem Club zu sein, in dem man lernt, sich intelligent durchzuschlagen. Tack. Insigne dieser Mitgliedschaft ist ein Ring. Tack. Ein silberner Ring, auf dem ein Boxhandschuh einen Springer hält. Tack. Wie in einer Sekte. Tack. Schachboxen ist eine Utopie. Nicht im Sinne von morgen. Im Sinne von jetzt.

2. Thomas Frantz döst und hört die Geräusche nicht. Eine Psychogeographie der Heimat
    Im U-Bahnhof Alexanderplatz lehnt ein Mann an einem Pfeiler, den Kopf in der T-Form des Eisenpfeilers vergraben. Er trägt einen Anorak und spricht laut, ununterbrochen. Er sagt Züge an, als wäre er ein Bahnhofsansager. Der nächste Zug nach Pankow, Ankunft zwanzig Uhr dreiundzwanzig. Der Zug nach Vinetastraße mit einiger Verspätung. Voraussichtliche Ankunft zwanzig Uhr zweiundzwanzig. U5 nach Hönow, der nächste Zug wird in zwölf Minuten erwartet, voraussichtliche Abfahrt zwanzig Uhr sechsundzwanzig.
    Ein Junge schleicht über den Bahnsteig, er trägt ein Kapuzenshirt, er spricht eine Frau an, die Frau verneint. Der Junge senkt den Kopf, zieht weiter. Vor den Abfalltonnen hält ein Mann und greift hinein. Der nächste Zug nach Pankow, voraussichtliche Ankunft in acht Minuten, bitte Vorsicht am Gleis.
    Der Zugansager ist jeden Tag im U-Bahnhof Alexanderplatz und sagt Züge an. Manchmal steht er neben der Tür des Schaffnerhäuschens der Linie 2 und sagt Züge an. Manchmal verändert er die Zeiten. Ein andermal befindet er sich am unteren Ende des Bahnsteigs vor dem Tunnelübergang zur S-Bahn und sagt Züge an. Dann wandert er hinüber auf den Bahnsteig der Linie 5. Er fährt hinauf auf den Hochbahnsteig der S-Bahn und sagt Züge an. Er ist der Ansager vom Alexanderplatz, er steht an den Gleisen des Bahnhofs und sagt Züge an. Bitte beachten Sie beim Aussteigen die Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante. Der nächste Zug nach Hönow in vier Minuten.
    Der Kapuzenjunge schleicht an Verkaufsständen vorbei. Kleine gläserne Boxen auf dem Bahnsteig. Der schnelle Bagel. Hot Dogs. Ein Asiate wendet Nudeln in seiner Box. Jolly Nudelbox. Der Kapuzenjunge wirft einen hungrigen Blick durch die Scheibe. Passengers travelling to Hauptbahnhof please change here. Der Ansager lehnt jetzt an der Box des Bahnpersonals. Zurückbleiben, bitte. Der nächste Zug nach Pankow erreicht den Bahnhof um zwanzig Uhr zweiunddreißig, der Ansager vom Alexanderplatz kreuzt den Bahnsteig zur gegenüberliegenden Seite.
    Am Alexanderplatz reißen sie den Damm auf. Für einen unterirdischen Parkplatz. Man geht auf Brettern.
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