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Gehwegschäden

Gehwegschäden

Titel: Gehwegschäden
Autoren: H Kuhn
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ihm weggehen, aber aufpassen. Immer schön den Kopf runter, bitte, fast bis auf die Brust. Übt das!«
    »Ra-ra-ra-bamm! Y Bap!«
    Jesus’ Adern treten auf seinem kahlen Kopf hervor, seine Haut glänzt. Der kleine muskulöse Körper ist zum Platzen gespannt. Seine Bewegungen sind die eines Salsatänzers.
    Es geht nicht um Fitness. Es geht nicht um einen Body, mit dem man aussieht wie aus der Deodorantwerbung. Ziel des Schachboxens ist nicht das Sixpack auf dem Cover von Men’s Health. Das ist eine Zeitschrift für Idioten, die noch in Ronald Reagans Supi-Yuppie-Zeitalter leben und glauben, durch Schönheit und Fitness Reichtum und Glück zu erlangen. Es geht nicht um Traumfrauen. Es geht nicht um den Mann fürs Leben oder stubenreine Wochenabschnittspartner.
    »Fünftens: der Schlag zur Herzspitze. Blitzschnell unter der Führungshand des Gegners weggetaucht, und Bamm! So!«
    Der dicke Daniel taucht blitzschnell unter einer imaginären gegnerischen Führungshand weg und feuert eine Rechte raus.
    »Darauf lauern so einige. Der Holyfield hat mal so eine kassiert. Die linke Führungshand kommt, man taucht mit dem Kopf seitlich oder darunter weg, so, und platziert die rechte Gerade parallel unter der Führhand des Gegners zur Herzspitze. Idealerweise ist das ein so genannter Mitschlag«, sagt der dicke Daniel.
    »Das heißt, die Rechte schnellt im selben Moment los wie die Linke des Gegners. Ich hab selbst mal einen K.o. zur Herzspitze bekommen. Da bleibt das Herz für kurze Zeit stehen, es kommt kein Blut mehr im Kopf an, man steht da und weiß gar nicht, wie einem geschieht …«
    Der dicke Daniel streckt die linke Führungshand vor. Er wendet den Kopf zur Seite, stoppt die Bewegung, verdreht die Augen hinter den Brillenrändern und knickt in den Knien ein. Er verharrt in dieser dümmlichen Position, bis alle außer Jesus gelacht haben.
    »… bevor man zusammensackt. Das Dumme dabei ist, wenn man Pech hat, kassiert man noch zwei, drei Dinger zum Kopf, bevor’s Richtung Ringboden geht. Gut. Sechs. Der Solarplexus. Klar, kennt ihr alle. Jeder schon mal eine ins Dreieck gekriegt, im Kindergarten, in der Schule, beim Fußballspielen. Das ist hier der rechte oder linke Aufwärtshaken, oder auch ’ne abgetauchte Gerade. Bupp – Luft weg. ’ne ziemliche Zeit. Reicht sogar für eine Ohnmacht.«
    Es geht um Kontrolle. Das Adrenalin kontrollieren. Das kann sehr hilfreich sein. Wenn schon am Morgen Gewitterstürme von Adrenalin über der Matratze dräuen, ist die Kontrolle des Stresshormons durchaus von Nutzen. Wenn Panik wie ein Psychopath mit laufender Kettensäge hinter der Badezimmertür lauert, ist es gut, die Reduktion von Adrenalin zu üben. Angst, Versagen, Kündigung im Urin? Runterschrauben. Schulden, Dispo, Rechnungen im Spiegel? Runterschrauben. Gänsehaut, Gefäßverengung, Schweißausbruch, Erweiterung der Bronchien am Frühstückstisch? Runterschrauben. Endpleite und Vollstreckung im Kaffeesatz? Herzfrequenz und Blutdruck senken. Langsam atmen. Schachboxen ist eine Philosophie. Nicht im Sinne von Leben. Im Sinne von Überleben.
    Der dicke Daniel verdreht die Augen und grinst wieder. Wie ein General läuft er in der Boxhalle auf und ab und inspiziert seine Leute. Sie stehen kerzengerade.
    Jesus hat sich in sein Wandpolster verbissen. Wie ein irrer Derwisch tanzt er davor herum und drischt auf die weiß darauf markierten Trefferflächen ein.
    »RA-RA-RA-DA-BAB! Eh? RAMMBAMMBA! DABDAB! He!«
    Daniel wirft einen missbilligenden Blick auf seinen Co-Trainer am Wandpolster. In atemberaubend schneller Folge klatschen die Hände des alten Kubaners auf. Er keucht und schreit. Seine dunklen Augen funkeln.
    »RA-RA-RAB-DAB-DAB!«
    »Gut. Sieben? Wer weiß es?«
    Thomas Frantz meldet sich.
    »Ja?«
    Die Leber.
    »Richtig.«
    Der dicke Daniel verschränkt die Arme hinter dem Rücken.
    »Der Leberhaken. Die Spezialität des Gentlemanboxers wie auch unseres Weltmeisters. Auch die kurze Rippe genannt.«
    »RA-RA-RA-RA-RA-RA …«
    Jesus schlägt die Nähmaschine: Füße und Hände bewegen sich im selben Staccato, als wolle er gleichzeitig eine Rinderhälfte weich klopfen und eine Treppe hinaufrennen.
    Der dicke Daniel versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Er schreitet die Reihe der Schachboxer mit vorgebeugtem Oberkörper ab.
    »Nein, nicht da, Friederike.«
    »DAB! Y DAB-DAB! YAB!«
    Der dicke Daniel bleibt stehen und wippt auf den Zehenspitzen.
    »Die Leber liegt rechts. Also mit der Linken. Du haust einen kurzen Haken
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