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Jede Sekunde zählt (German Edition)

Jede Sekunde zählt (German Edition)

Titel: Jede Sekunde zählt (German Edition)
Autoren: Lance Armstrong , Sally Jenkins
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Tempo anzuschlagen. Das Einzelzeitfahren von Pornic nach Nantes würde, das wussten wir beide, die Entscheidung bringen. Wir hatten nichts zu tun, außer zu kurbeln und zu denken, und mit jedem Tag wuchs die Spannung. In Nantes würde, im wahrsten Sinne des Wortes, jede Sekunde zählen.
     
    Ungeachtet des strömenden Regens, der in Nantes an diesem Morgen vom Himmel fiel, standen Johan und ich um 6.30 Uhr auf und fuhren hinaus, um den Kurs zu inspizieren. Ganz gemächlich fuhr ich den Kurs auf dem Rad ab, studierte die Kurven und achtete auf Gleise und Kanaldeckel. Auf einer nassen Straße können selbst Fahrbahnmarkierungen gefährlich rutschig sein. Die letzten zehn Kilometer waren, wie ich sah, besonders tückisch – eine Abfolge von Kreisverkehren und Kurven, in denen viele Katastrophen passieren konnten. Bei der Rückkehr ins Hotel hörten wir, dass Ullrich ausgeschlafen und ein Video des Kurses angeschaut hatte, statt im Regen herumzukurven.
    Im Teambus war es still an diesem Morgen. Der Regen trommelte gegen die Fenster. Wenn Robin Williams, der an diesem Morgen wieder im Bus war, einen seiner Scherze machte, versuchte ich bemüht zu lachen.
    Schließlich waren alle Postal-Fahrer draußen auf dem Kurs und kamen die ersten Berichte von ihnen herein: Stürze nahezu im Minutentakt, drei von Ullrichs Teamkollegen hatte es schon erwischt. Ich solle, so der Tenor, bloß kein Risiko eingehen.
    Johans abschließende taktische Instruktionen liefen auf die eine Botschaft hinaus: Ich war nicht der, der ein Risiko eingehen musste. Ullrich musste mich jagen, nicht ich ihn.
    Mit diesem Gedanken im Kopf ging ich hinaus auf den Kurs und ließ es erst einmal langsam angehen. Die sechs Sekunden, dieUllrich auf den ersten eineinhalb Kilometern gutmachte, beunruhigten mich nicht weiter. Mehr Sorgen bereitete mir da schon, dass meine Reifen auf der regennassen Fahrbahn immer wieder ins Rutschen gerieten.
    Ich blieb ganz ruhig. Wahrscheinlich hatte Ullrich sofort vom Start weg Tempo gemacht, um mich unter Druck zu setzen oder vielleicht gar zu demoralisieren. Ich konzentrierte mich auf mein eigenes Tempo und fand mit der Zeit meinen Rhythmus.
    Bei der nächsten Zwischenzeit war Ullrichs Vorsprung auf zwei Sekunden zusammengeschmolzen.
    Obwohl überall auf der Straße Wasser stand, drückte Ullrich weiter aufs Tempo. In jeder Kurve gischtete das Wasser in die Höhe.
    Inzwischen hatten es die meisten Postal-Fahrer sicher ins Ziel geschafft und sich hinten im Teambus versammelt, wo sie das Rennen voller Anspannung im Fernsehen verfolgten. Sie saßen da, die Hände vor den Augen und spickten durch die Finger, wie ich über den schlüpfrigen Asphalt jagte.
    Ich lag jetzt zehn Sekunden vor Ullrich.
    Vor mir hieb Ullrich wie ein Presslufthammer in die Pedale. Er befand sich jetzt auf dem gefährlichsten Abschnitt des Kurses, auf den letzten zehn Kilometern. Vor ihm tauchte ein Kreisverkehr auf. Er jagte hinein...
    Einen Augenblick später ertönte Johans ausdruckslose Stimme in meinem Ohrlautsprecher: »Lance, Ullrich ist gestürzt.«
    Ullrich war in den Kreisverkehr hineingerast, und als er sich in die Kurve legte, rutschte sein Rad unter ihm weg. Es war, als wäre die Straße mit einem Mal einfach unter ihm verschwunden. Ein paar schrecklich lange Sekunden schlitterte er über den regennassen Asphalt, dann knallte er in ein paar Heuballen.
    Auch wenn Ullrich sofort wieder hochkam und aufs Rad stieg, das Rennen war gelaufen. Ich war der Sieger der Tour – wenn ich nur im Sattel blieb. »Lance, ganz ruhig jetzt. Kein Risiko mehr«, drängte Johan. »Du kannst praktisch ins Ziel laufen und gewinnst trotzdem die Tour.«
    Von da ab war für mich das Rennen eine wunderschöne Fahrt durch Nantes. Fast aufrecht im Sattel sitzend, genoss ich den Ausblick. Die Kurven allerdings nahm ich mit der gebotenen Vorsicht. Drei Kilometer vor dem Ziel fuhr Johan im Begleitwagen neben mich heran und gab mir das Daumen-hoch-Zeichen. Im Gegenzug hob ich eine Faust mit ausgestrecktem Zeigefinger zum »Hook ’em Horns«-Gruß der Texaner in die Höhe.
    Mit jedem Meter, den ich der Ziellinie näher kam, fiel ein Teil der Anspannungen der letzten drei Wochen von mir ab. Ich hatte fast schon das Gefühl, als würde mir die Sonne ins Gesicht scheinen, so breit war das Grinsen, das ich im Gesicht trug. Als ich über die Ziellinie rollte, riss ich eine Faust in die Höhe, entschlossen, den Moment voll auszukosten. Ich stand kurz davor, zum fünften Mal als
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