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Jede Sekunde zählt (German Edition)

Jede Sekunde zählt (German Edition)

Titel: Jede Sekunde zählt (German Edition)
Autoren: Lance Armstrong , Sally Jenkins
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jagte an sein Hinterrad heran und katapulierte mich an ihm vorbei.
    Ich war fuchsteufelswild. Ich hieb in die Pedale, Adrenalin und Angst und Frustration in jedem Pedaltritt.
    Ein paar Sekunden später war ich allein. Ich hatte mich so blitzartig von der Gruppe gelöst, dass niemand mir folgen konnte. Einmal mehr verschwand Ullrich hinter mir.
    »Er fällt ab«, meldete Johan. »Du hast zehn Sekunden.«
    Ich beschleunigte. Mit gefletschten Zähnen, angetrieben von einem Rest Angst und Wut nach dem Sturz – und nach Wochen voller Stürze, Torturen und Zweifeln –, jagte ich den Berg hinauf.
    Ich fand einen Rhythmus, fing an, auf den Pedalen zu tanzen, als würde ich eine Treppe hinaufrennen. »30 Sekunden...«
    Aber wieder kam der Durst. Ich hatte bei dem Sturz meine Wasserflasche verloren und spürte, wie sich jetzt Müdigkeit in mir ausbreitete. In dem Moment fing Johan, der mit dem Wagen hinter mich gefahren war, an, auf mich einzubrüllen. Er war so aufregt, dass ich ihn kaum verstehen konnte.
    »Los, komm! Komm! Das ist es! Jetzt holst du dir die Tour! Das ist deine Chance!«
    Ich hatte alles gegeben, ich war ausgezehrt. Die letzten paar Kilometer gerieten zu einer einzigen, langen Grimasse der Schmerzen. Endlich kam das Ziel in Sicht, Wut und Adrenalin trugen mich über die letzten Meter. Ich dachte an die Zweifel im Peloton, an die Gerüchte, dass ich zu alt, zu reich, zu unkonzentriert oder zu amerikanisch sei, die Tour de France ein fünftes Mal zu gewinnen. Und ich dachte: Das ist mein Heimspiel, und dieses Rennen gewinnt niemand außer mir.
    Mit letzter Kraft rollte ich über die Ziellinie, sank mit hängenden Schultern über dem Lenker zusammen, zu erschöpft und erleichtert, auch nur die Arme im Triumph in die Höhe zu strecken. Ich blutete und humpelte und kam fast um vor Durst, aber ich hatte die Etappe mit 40 Sekunden Vorsprung vor Ullrich gewonnen.
    Damit hatte ich meine Führung im Gesamtklassement auf 1:07 Minuten ausgebaut, ein Vorsprung von gut einer Minute, der mir nach zwei Wochen des Leidens und der Selbstzweifel wie eine Stunde vorkam. Das war, unter diesen Umständen, mehr, als wir hatten erwarten dürfen.
    Ich stieg aufs Podium und streifte mir das Gelbe Trikot über, und als ich da mit in die Höhe gestreckten Armen stand, sah ich George die Ziellinie überqueren. Mit einem Schlag war meineMüdigkeit verschwunden, mein Arm schnellte nach vorne und deutete triumphierend auf George.
    Da ich nach der Siegerehrung zuerst zur Dopingkontrolle und anschließend zur Pressekonferenz musste, dauerte es eine Weile, bis ich Johan sah. Ich stürzte auf ihn zu, und er packte mich, drückte mich wie ein Bär, schüttelte mich hin und her und brabbelte in einem fort: »Ja, ja, ja, ja!«
    »Das ist mein Heimspiel«, sagte ich bloß.
    Wir stiegen in einen Wagen und machten uns auf den Weg hinunter ins Tal zum Hotel. Die anderen waren schon im Teambus vorausgefahren, und mit einem Mal hatte ich den dringenden Wunsch, bei ihnen zu sein. Dass ich da oben im Gelben Trikot auf dem Podium stehen durfte, lag einzig und allein daran, dass sie mich umgeben und beschützt hatten, und ich wollte nicht alleine sein, ich wollte mit ihnen fahren. »Los, holen wir sie ein«, sagte ich zu Johan.
    Johan jagte die Straße hinunter, bis vor uns der Teambus in Sicht kam. Per Funk von uns verständigt, fuhr der Fahrer rechts ran und wartete. Johan hatte kaum angehalten, da sprang ich schon aus dem Auto, rannte zum Bus und stieg die Stufen hoch. Eine Sekunde später stand ich im Bus und stimmte ein wildes Jubelgeheul an.
    »Was haltet ihr jetzt von mir? Was zum Teufel haltet ihr jetzt von mir?!«
    Die Jungs explodierten. Sie sprangen aus den Sitzen, jubelten und schrien, und die nächsten zehn Minuten über herrschte im Bus ein wildes Durcheinander, wir lagen uns in den Armen, drückten uns, heulten und hieben einander auf die Schultern.
    Die Tour war noch nicht vorüber, aber jetzt war ich mir absolut sicher, dass ich sie gewinnen würde. Zum ersten Mal fühlte ich mich nicht mehr schwach oder gejagt. Zum ersten Mal fühlte ich mich wie der wirkliche Spitzenreiter der Tour de France. Vor allem aber konnte ich meinen Teamkameraden wieder in die Augen schauen.
    Die nächsten drei Tage führten Ullrich und ich eine Art Limbo auf Rädern auf, beäugten uns, belauerten uns. Da es bei diesen Etappen keine Abschnitte gab, auf denen man ordentlich Zeit hätte gutmachen können, begnügten wir uns bis Nantes damit, ein gleichmäßiges
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