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Jede Sekunde zählt (German Edition)

Jede Sekunde zählt (German Edition)

Titel: Jede Sekunde zählt (German Edition)
Autoren: Lance Armstrong , Sally Jenkins
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sagte Johan mit ruhiger Stimme.
    Hinter mir verlor Ullrich den Anschluss, sein Gesicht schmerzverzerrt. Er kurbelte und kurbelte, aber er konnte die Beschleunigung nicht mithalten. »Zehn Sekunden«, meldete Johan, und eine kleine Welle der Erregung erfasste mich.
    Ich hieb in die Pedale, kletterte Meter um Meter, nur den einen Gedanken im Kopf: noch mehr Straße zwischen mich und Ullrich bringen. Ich hielt mich auf der Ideallinie, schnitt jede Kurve, ging praktisch auf Tuchfühlung mit den Zuschauern, nahm sie kaum noch wahr...
    Plötzlich blitzte etwas Gelbes vor mir auf. Ein kleines Kind schwenkte eine gelbe Andenkentasche.
    Oh, oh, dachte ich, das wird knapp.
    Im nächsten Augenblick hatte sich die Tasche in meinem Bremsgriff verfangen. Mit einem Ruck wurde mir der Lenker aus der Hand gerissen.
    Das Fahrrad kippte seitwärts weg.
    Mir war, als wäre ich garrottiert worden. Ich ging direkt zu Boden und prallte mit der rechten Hüfte hart auf den Asphalt. Bin ich gestürzt? Jetzt?, schoss es mir ungläubig durch den Kopf. Wie kann ich gerade jetzt stürzen?
    Mein nächster Gedanke: Okay, die Tour ist vorbei. Das ist zu viel, zu viele Dinge sind schief gelaufen.
    Dann drängte sich mir ein anderer Gedanke auf.
    Steh auf.
    Derselbe Gedanke, der mich die ganzen langen Monate über angespornt hatte, die ich im Krankenhaus lag. Nach der Operation. Steh auf. Nach der Chemotherapie. Steh auf. Der Gedanke hatte mir im Ohr getönt, mich angestupst, mich angestoßen, und nun war er wieder da. Steh... auf.
    Ich stand auf. Später sagte Johan, es hätte ausgesehen, als wäre ich – wie ein Stehaufmännchen – praktisch sofort wieder auf die Beine gesprungen. Ich riss mein Fahrrad hoch und machte mir hektisch an der Kette zu schaffen, die herausgesprungen war – ich zerrte und zog und versuchte, sie wieder auf das Ritzel zu fummeln. Während ich das tat, brüllte ich, ein kehliges, urzeitliches Brüllen. Ich schrie vor Wut, vor Verzweiflung. Ich brüllte jeden Fluch hinaus, der mir einfiel. Ich schrie, weil ich dachte, ich hätte die Tour verloren.
    Endlich hatte ich die Kette wieder drauf. Ich sprang in den Sattel und stieß mich ab. In dem Moment tauchte ein Postal-Mechaniker hinter mir auf. Während er mich die Straße hoch anschob, hörte ich ihn ebenfalls schreien, vor Anstrengung und Wut.
    Chechu, der auf mich gewartet hatte, beschleunigte und bedeutete mir mit hektischen Handzeichen, ihm zu folgen. Ich ging aus dem Sattel, hämmerte in die Pedale – und die Kette rutschte durch den Zahnkranz. Mein Fuß sprang aus dem Pedal, das Rad kippte seitwärts weg, und ich knallte mit dem Brustkorb auf das Oberrohr. Später stellte sich heraus, dass das hintere Tretkurbellager gebrochen war. Irgendwie gelang es mir, im Sattel zu bleiben und meinen Fuß wieder in das Pedal einzuklicken.
    Vor mir schäumte Tyler Hamilton vor Wut. Die Tour-Etikette verlangte, dass die führenden Fahrer warteten, bis ich wieder aufgeschlossen hatte, so wie ich damals auf Ullrich gewartet hatte, als er zwei Jahre zuvor bei einer Abfahrt über die Böschung hinaus ins Gebüsch gerast war. Der stärkste, nicht der Fahrer mit dem meisten Glück, sollte die Tour gewinnen, und im Peloton herrschte Konsens, dass niemand versuchen sollte, von einem unglücklichen Sturz zu profitieren.
    Hinterher wurde Ullrich Anerkennung dafür gezollt, dass er gewartet hatte. Im Nachhinein aber bin ich mir gar nicht mehr so sicher, dass er das tatsächlich getan hat. Auf den Videoaufnahmen sieht es für mich so aus, als würde er Renntempo fahren. Er griff nicht an, aber er wartete auch nicht – nicht, bis Tyler nach vorne in die Führungsgruppe fuhr, ihnen mit Handzeichen bedeutete, langsamer zu machen, und die Fahrer anschrie, sie sollten warten.
    Erst daraufhin nahmen sie Tempo weg. Unterdessen war Johan neben mich herangefahren, um zu sehen, ob ich in Ordnung war. Ich hatte eine Platzwunde am Ellbogen. Johan ließ das Seitenfenster herunter und sagte etwas zu mir. Ich warf ihm einen Blick zu, mit Augen, in denen reines Feuer loderte. Johan fiel die Kinnlade herunter. Ohne ein Wort zu sagen, schloss er das Fenster wieder. Er hatte genug gesehen. »In dem Moment wusste ich, dass es vorbei war«, sagte er später.
    Unter mir schoss das Fahrrad den Berg hinauf. Ein paar Minuten wütender Anstrengung später hatte ich wieder zur Spitzengruppe aufgeschlossen.
    Kaum war ich da, wandte sich Mayo kurz zu mir um – und startete einen Angriff. Sofort ging ich aus dem Sattel,
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