Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johsohn
Vom Netzwerk:
die Rote Armee opfert Zeit und Mannschaften, damit du fast rechtzeitig zur nächsten Versammlung kommst in Beidendorf. Eben nur bei einem Kommunisten können die Freunde gewiß sein, daß er von Natur ein Feind der Faschisten ist auf den Tod; da war nichts zu besorgen, von daher konnte das Flattern nicht kommen, das ihm durchs Gehirn zog vor dem Einschlafen und manchmal die halbe Nacht.
    – Wofür denn noch will er dankbar sein, Gesine? Es ist ja fast, als hülfe dir Rockefeller beim Wahlkampf!
    – Für Erziehung im Denken, du. Die Rote Armee gibt ihm ja nicht nur mietfrei Quartier bei Alma Witte, läßt ihm Essen bringen aus der städtischen Gemeinschaftsverpflegung, schenkt ihm endlich eine Lederjacke, ein Paar Halbschäfter, wenn auch getragen. Sein leibliches Wohl genügt ihnen nicht, darauf wollte er zur Not verzichten, solange die Freunde nur darauf achten, daß dir der Kopf nicht stehen bleibt wie der Flunder das Maul, als es Zwölf schlug. Was haben sie ihn nicht alles gelehrt! Nimm nur das Wort Wahlkampf. Anfangs hat er das benutzt wie eines, das gibt es eben, darunter verstehen alle das Gleiche, es gehört keinem mehr als anderen, es ist bloß eine Beschreibung für deinen gegenwärtigen Parteiauftrag. Da läßt J. J. Jenudkidse dich aufs Rathaus rufen, mitten aus der Arbeit heraus, diese fünf Minuten wirst du nicht vergessen. Das Dreifache J sitzt mit vorgetäuschter Unnahbarkeit am blanken Schreibtisch, hinter sich ein Bildnis Goethes im Format hundert mal hundert, neben sich Frau Dr. Beese, die ihre Einkünfte mit Deutschunterricht im Rathaus aufbessert. Beide blicken dich stumm an, verschmitzt, als solltest du eine Überraschung erleben. Aber keiner schiebt die Lippen so spitzbübisch vor wie Jenudkidse, eine einzige Frage stellt er dir, ein Wort nur, ein deutsches, und ein für alle Male hast du deinen besonderen Besitz an den Wahlen begriffen, das Kämpferische, den Kampf, dazu die Feinde, ohne die es nicht geht; du hättest es gern Elise Bock erklärt, die legt dir gleichmütig die Unterschriftenmappe noch einmal vor und will deine Aufregung nicht begreifen. Eine halbe Woche lang kannst du es auf den Versammlungen kaum abwarten, bis der örtliche Bürgermeister dich vorgestellt hat als den Genossen vom Kreis und du endlich anfangen darfst zu reden! Tage lang kommst du nicht ins Amt, bist nur durch telefonischen Zufall erreichbar in den Dörfern rund um Gneez, zehn Auftritte am Tag sind dir einer zu wenig, noch in den elften gehst du hinein wie ein Boxer, und wo immer du aufwachst, findest du neben dir Zettel vollgekritzelt mit Einfällen, die hättest du noch besser bringen sollen! Dann denkst du, es ist Schuldbewußtsein.
    – Rede mal so, Gesine.
    – Die erste Ernte auf freiem Boden. Der Raubbau der Junkerherrschaft von den zwanziger Jahren bis zur Befreiung. 120 000 Hektar mehr bestellt als 1945. Rote Armee stoppt Demontage der Neptunwerft in Rostock, schafft Arbeitsplätze durch Einrichtung einer S. A. G. Die Hansawerft Wismar erweitert um Gelände der Dornierwerke, mit Werftausrüstungen aus Szczecin. Nicht nur heute, seit jeher hat die Sowjetunion brüderlich geholfen. Der selbe sowjetische Eisbrecher Krassin, der im Sommer 1928 die Besatzung des gescheiterten Luftschiffes Italia aus dem Packeis bei Spitzbergen rettete, kämpfte im Winter 1929 vor Warnemünde eingefrorene Schiffe frei, darunter die Eisenbahnfähre nach Dänemark. Nicht aber um die Sowjets geht es, nicht um die Diktatur des Proletariats, nur um den Neuen Anfang, den Aufbau, im Bündnis mit allen antifaschistischen Kräften, auch den bürgerlichen, sofern sie ehrlich sind. Vernachlässigung der antifaschistischen Siegerpflicht durch die Engländer und Amerikaner, die Nazis in der Verwaltung, der Schutzpolizei, der Kripo, der Gendarmerie von Gneez beließen. Reinigung des Landes. Parlamentarische Demokratie, mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk, unter dem Schutz der Sowjetunion.
    – S. A. G.
    – Sowjetische Aktiengesellschaft.
    – Nein, als Zwischenruf!
    – Do as the Romans do. Bürgerliche Wirtschaftsform vorgefunden.
    – Gleichberechtigung der Frau. Frauen kriegen weniger Tabak auf Karten zugeteilt!
    – Spirituosen auch. Ach so. Für diesen Zweck trug der Genosse Landrat jeweils eine Packung mit zwei Zigaretten bei sich. Die warf er ungefähr in die Richtung der Ruferin, mit dem Aufschrei, es seien auch seine letzten! Erst eine massenhafte Beteiligung an der Wahl, ein Sieg der S. E. D.,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher