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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johsohn
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tatsächlich hörte diese Gesine das gneezer Stadtgespräch genauer als Jakob das konnte von Jerichow aus, Knoop ging hoch, der hatte zu früh auf den Großhändler umsteigen wollen. N. Ö. P. ist eben nicht für jeden das kleine Einmaleins, da mußte erst Emil kommen. Unstreitig wußte sie mehr von Leuten in Jerichow. So geriet Jakob an Jöche, einen Freund bis zum Herbst 1956, so wurde er mit Peter Wulff zusammengebracht, so dauerhaft und unkündbar wie auf Erden möglich.
    Jakob hatte davon gehört, daß die Kinder in den jerichower wie den gneezer Schulen Handel betrieben mit den Lebensmittelmarken, die sie für die Schulspeisung hätten abliefern sollen. Diese Gesine aber wollte von jedem Schuster wissen, mit dem er etwas anfing, von jedem zugelaufenen Rechtsanwalt, noch als sie längst über das Volumen von zweihundert Pfund Weizenmehl hinaus waren. Sie erfuhr zu viel. Sie geriet hinein in Geschäfte, die nicht nur für ein Kind gefährlich waren. So läßt man Kinder nicht lernen vom eigenen Beispiel. So steht man nicht einem Haushalt vor.
    Warum sie das anders nicht wollte, wer sollte das erdenken?
    Übrigens mochte seine Mutter recht haben damit, daß solch Cresspahlsches Kind in eine kirchliche Lehre gehörte. Gesine hatte da Nücken im Kopf, er war das wohl gewahr geworden. Wie ihr die ausreden?
    23. Juni, 1968 Sonntag
    Um Mitternacht wurde der amerikanische Krieg in Südostasien der längste in der Geschichte der Staaten, vorausgesetzt, die Revolution hörte auf mit der britischen Kapitulation bei Yorktown am 19. Oktober 1781. Heute dauert der Krieg in Viet Nam sechs Jahre, sechs Monate und jetzt den zweiten Tag.
    Gestern kamen in La Guardia fünf Kinder an aus Viet Nam, in einer Militärmaschine, die sollen hier in Krankenhäuser. Die Jungen heißen Nguyen Bien, zehn Jahre alt, am 8. Januar von einer Kugel im Rücken getroffen; Doan Van Yen, zwölf Jahre, am 4. März verletzt durch Raketenbeschuß; Le Sam, elf, Verbrennungen dritten Grades durch Napalm am 31. März; Nguyen Lau, neun Jahre, vor etwa neun Monaten hüftabwärts gelähmt durch einen Gewehrschuß ins Rückgrat. Fotografiert hat die New York Times das Mädchen, die achtjährige Le Thi Tum, die in weißen Pyjamas, eifrig und lächelnd, die Treppe herunterkam. Näher ist die Times nicht gegangen. Sie trägt in Worten nach, daß dem Mädchen eine Narbe quer über das Gesicht geht und die Nase zwar noch da ist, jedoch ohne Brücke. Ohne Steg.
    – Nein. Nasenbein.
    Denn Mrs. Cresspahl fährt mit ihrer Tochter in den Städten und Wäldern nördlich New Yorks umher, in Eisenbahnen, Bussen, Taxis, dabei teilen sie die Zeitung, dabei berichtigt die eine der anderen die Sprache, ein Kind hat sein Recht auf Erziehung. Die Marktplätze sind still vor Freude auf den Mittag, in einem Stadtpark steht ein Polizist auf seinem Rappen unbeweglich wie sein eigenes Denkmal, Reiterstandbild mit Funkgerät am Ohr, in den Wäldern laufen Bäche aus den Felsen so klar, als dürfe man von ihrem Wasser trinken ohne Gefahr des Todes. Es ist ein Ausflug, es ist eine Geschäftsreise. Wie jedes Jahr um diese Zeit muß für das Kind ein Platz für die Sommerferien besorgt werden, Marie hat ihr Recht auf Ferien. In New Rochelle, in Mamaroneck, in Peekskill besichtigt sie herrschaftliche Landsitze, Barackenstädte, Zeltplätze; ihr kommt es an auf die Länge der Busfahrt nach New York. Denn wir haben uns geeinigt auf bloß vier Wochen in Prag, vielleicht will sie hier bleiben und warten. Mit ernsthaften Verhandlungen triezt sie den Aufseher eines Bauplatzes, den die zahlenden Kinder offenbar mit eigenen Händen in eine Feriengegend verwandeln sollen, denn der Prospekt verspricht schöpferische Beschäftigung. Kreative. Der Mann ist recht gepeinigt, sichtlich tut es ihm weh im Kopf, wenn er sich Sachen ausdenken muß wie Bildhauerei … rhythmische Bewegung … französische Sprachkurse bei Regen. 200 Dollar pro Monat. Im späten Nachmittag findet Marie ein Lager am Sund von Long Island, eine halbe Stunde vom Riverside Drive entfernt, da sitzt eine stramme Dame an der Kasse, sie stellt nicht Schöpferisches in Aussicht, auf soldatische Weise zählt sie ihre Angebote auf: Quadratmeter Fläche des Lagers, zwei Schwimmkästen, sportliche Aufsicht, pädagogische Betreuung nach fünfunddreißigjähriger Erfahrung, Linienverkehr von und nach Manhattan, Absperrung des Camps gegen das lebensgefährliche Naturwasser durch einen unüberwindlichen Maschendrahtzaun. Wegen des
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