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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johsohn
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Flugverkehrs auf dem Platz La Guardia gegenüber, alle zwei Minuten Start oder Landung: Ermäßigung auf fünfunddreißig Dollar pro Woche.
    Sechs Stunden lang sind uns Amerikaner begegnet wie Freunde, unmäßig hinaus über das Geschäftliche an den Besuchen: jene Lehrerin, die eine Kunst an Mobiles ausübt, die Pförtner, die Taxifahrerin, ja noch der unglückselige Mann, der eine Bauwüste als Kinderparadies verkaufen sollte, wegen eines bißchen steilen Waldes in der Nähe. In einem Zug hat der Lokomotivführer Marie nicht nur in seine Kabine gerufen, sie durfte auch seinen Hebel festhalten und drücken und weiß nunmehr, wie es ist beim Einfahren ganz vorne in den Tunnel unter dem North River. In Yonkers wurden wir in eine Bar gelassen, obwohl die männlichen Gäste gerade das nachmittägliche Trinken angefangen hatten; der Besitzer mochte allen die italienischen Kochkünste vorführen wollen, die er im Schilde führt, was er brachte war Pizza, italienisch. In Yonkers entschied sich Marie. Die militärische Ausführung soll es sein. Gegenüber La Guardia.
     
    – Du weißt es, oder? Du denkst dir doch, du kennst mich? Sag es, Gesine.
    – Fünfundvierzig Dollar für die Kinder.
    – Fünfzehn gesparte Dollar pro Woche. Macht sechzig.
    – Marie, jenes Komitee tritt auf im Namen der »Verantwortlichkeit«.
    – Verantwortlich sind weder ich noch du. Tut dir das Geld leid?
    – Nein. Nur, du willst es aus Mitleid.
    – Ich muß nicht solch Kind werden wie du eins warst.
    – Mitleid ist falsch, Marie.
    – Mitleid ist nicht schlecht. Wenn ich mein Gewissen beruhige für vier Wochen, ist das praktisch oder was?
    24. Juni, 1968 Montag
    Der Ausgang der mecklenburgischen Landtagswahlen vom 20. Oktober 1946 ist bekannt. Die Sozialistische Einheitspartei bekam 45 Sitze, die Konservativen 31, die Liberalen 11, die Gegenseitige Bauernhilfe durfte 3 Vertreter nach Schwerin schicken, für einen vom Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands waren nicht genug Stimmen abgefallen.
    Auch in der neuen Kampagne war der Wahlkampfleiter für den Landkreis Gneez mit unsicherem Gefühl unterwegs, vielleicht wegen seiner Niederlage im September. Überdies, das Gefühl hatte sich verändert. Gewiß, ihm war noch einmal der ehrende Auftrag zugefallen, diesmal jedoch ging es um mehr als bloß Gemeinden, um so tiefer konnte er abrutschen. Solche Angst dachte er sich weg, nachdem er sie einmal erkannt hatte als Eigennutz. Eine ähnliche Empfindung blieb übrig, die Gewißheit von etwas Kommendem, das konnte alles verderben. Es saß ihm im Nacken, ähnlich der Vorahnung eines Schlages. Gegen einen Überfall wollte er sich wohl verteidigen, Ungehorsam dachte er gründlich abzufertigen, dafür hatte er sich einen Namen gemacht; was aber sollte er anfangen mit einer Katastrophe? Anzusehen war ihm bloß Müdigkeit, innen fühlte er sich schlaff. Es lag nicht an den vielen Wiederholungen jeden täglichen Tag; die Wiederholungen waren richtig, sie stellten Wahrheit dar. Was war es denn?
    Bei der Einfahrt in Jerichow glaubte er einen winzigen Zipfel erwischt zu haben. Es war der letzte Tag vor der Wahl, noch kein Mal war er aufgetreten in diesem windigen Nest, das sich eine Stadt nannte. Das schlechte Gewissen mochte ihn plagen, er hatte sich vor diesem Jerichow gedrückt. Hier hatte Slata drei Jahre lang gelebt, im Haus eines kapitalistischen Großhändlers, vorgesehen als Ehefrau eines faschistischen Mordbrenners; er wollte das Haus nicht sehen, erst recht sollten solche Schwiegereltern Slatas seinen Augen fernbleiben. Der Mann, Papenbrock hieß er ja wohl, verdiente sich wahrscheinlich längst wieder eine goldene Nase im Zwischenhandel, unter den Augen der Roten Armee, wohlgeschützt unter ihrer N. Ö. P.; den würde er mit Genuß sich vornehmen, wenn das nächste Kapitel im Buch aufzuschlagen war. Er nahm sich vor, ja nicht nach diesen Papenbrocks zu fragen. Zwar war an solchem Vorsatz etwas Privates; vielleicht genügte es für den Augenblick, oder bis zur Auszählung der Wahlergebnisse, daß er solche Schwäche niemandem eingestand als sich selber.
    Er stand mit dem Rücken zum Fenster von Papenbrocks ausgeräumtem Comptoir, inkognito, denn ohne Wagen, Chauffeur und Ledermantel glaubte er sich unkenntlich genug. Die Frau, die neben ihm sich aus der Tür drückte, war Louise Papenbrock, die früher für solche Gänge ein Dienstmädchen hatte schicken dürfen. Jetzt mußte sie in eigener Person durch die Stadtstraße und den
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