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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johsohn
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zurückgegangen. Das hab ich gelernt von einem Menschen, der …
    – Wie kommen Sie bloß darauf! Jakob ist bei mir zu Besuch gewesen fünfmal im Jahr, seit Sie weggereist sind aus seiner Aufsicht. Kam Ihre Briefe zu lesen, wollte wissen wie das so zugeht an Dolmetscherschulen. Ihr Vater war ein verläßlicher, ein fürsorglicher Mann, mein verehrtes junges Fräulein Cresspahl.
    – Herr Kliefoth, ich bin bloß elf Jahre alt. Bitte, sagen Sie du zu mir.
    – Deine Mutter, Marie, sie war im Mai 1953 etwa einen Meter fünfundsechzig groß und trug ihr schwarzgraues Haar mit Messern geschnitten. Ausladende Schultern, schmale Hüften. Wenn sie in Jerichow war, nahm sie mit Vorliebe Hosen, lief ihren barften Beinen Bräune an. Mit den dunklen Brauen, vorsichtigen Augenbewegungen, sparsamen Lippen war das erwachsene Gesicht sorgfältig vorbereitet.
    – Wie hieß solch Wetter in Jerichow?
    – »Schönstes Damen-Segelwetter«, Fru Cresspahl. Werte Lieben ausgeschlossen.
    Eine Stimme mit einer schartigen Heiserkeit, die bei lockerem Sprechen im Baß orgelt.
    – Herr Kliefoth, manchmal träume ich das. Auf einem polnischen Schiff, Zwischenlandung in Liverpool, dann hierher nach Kopenhagen. Die Einfahrt nach Rostock neben dem Alten Strom, Walddurchblicke im Doberaner Forst, der Bahnhof von Wismar oder Gneez. Oder, wenn mir Jerichow untersagt ist, nach Wendisch Burg. Zur Not Neustrelitz, Waren, Malchin, wo Keiner uns kennt, wo ich eine Wohnung verdienen kann mit Blick auf einen See, einen Liegeplatz für ein Boot, Morgende im Winter am Eis, Schilfschatten, Ofenfeuer … aber Herr Rohlfs ist tot, oder auf seine Art gescheitert an der Majorsecke. Nur auf Durchreise dürfen wir nach Mecklenburg, in einem Hotel absteigen unter Aufsicht; da ist kein Unterkommen nach Belieben.
    – Wär jemand wie ich doch vermögend in der Zukunft, Fru Cresspahl. Åpen un ihrlich!
    – Einmal hatt ich mich geschnitten, gab Jakob den Fuß in die Hand aus dem Stand. Er sah sich das an, ließ den Fuß abgleiten im selben Rhythmus wie meine Hand auf seine Schulter sich stützte; die Bewegung ging mir durch den Leib ohne einen Schmerz. Ich glaub das geschieht einem im Leben ein einziges Mal.
    – Må jeg bede om Deres pas? De er nok med Deres underskrift, resten ordner jeg.
    – De er meget elskærdig. Hvor meget bliver det ialt? Det er til Dem.
    – Meine Frau war behindert in ihrer –
    – Marie hab ich das Nötige mitteilen müssen, Herr Kliefoth.
    – in ihrer Kinderstube. So eine Frau bekommt die meisten Kinder an die Schürze; in der Küche, im Garten. Im Grund weiß man vom Leben nur eines: was dem Gesetze des Werdens unterliegt, muß nach diesem Gesetze vergehen. Mir, da seien Sie unbesorgt, ergeht es genügend. Mein Latein ist flatterig geworden; das Gedächtnis verhält sich lediglich angemessen. Ich muß dem Geschicke dankbar sein dafür, mich so gnädig behandelt zu haben. Ich danke Ihnen, mine leeve Fru Cresspahl. Sie haben dazu geholfen.
    – Herr Kliefoth, mögen Sie leben, solange es Ihnen gefällt.
    – Ihr Vater hat mir die Ehre seiner Freundschaft erwiesen. Eine seiner Auffassungen ging dahin: Geschichte ist ein Entwurf.
    – Wie es uns ergeht, haben wir aufgeschrieben bis zu unserer Arbeit in Prag, 1687 Seiten; mit Ihrer Erlaubnis werden wir es Ihnen überreichen. Nachzutragen sind an die zwei Stunden Flug in den Süden. Was soll uns geschehen mit einer Gesellschaft Československé aerolinie Č. S. A., die tritt im ausländischen Verkehr auf unter den Buchstaben O und K? Wo wir fest gebucht sind, O. K.? Heute abend rufen wir an aus Prag.
    – Will you take good care of my friend who is your mother and Mrs. Cresspahl?
    – Ich versprech es, Herr Kliefoth. Meine Mutter und ich, wir sind befreundet.
    Beim Gehen an der See gerieten wir ins Wasser. Rasselnde Kiesel um die Knöchel. Wir hielten einander an den Händen: ein Kind; ein Mann unterwegs an den Ort wo die Toten sind; und sie, das Kind das ich war.
     
    [29. Januar 1968, New York, N. Y. – 17. April 1983, Sheerness, Kent.]

Informationen zum Buch/Autor
    »Es zeichnet sich ab, daß Johnson – der Autor der ›Jahrestage‹-Tetra­logie – neben, wenn nicht vor Grass und Böll als umfassender, hellsichtiger, unbestechlicher Chronist des gesamtdeutschen Schicksals begriffen werden muß. Als Schriftsteller von weltliterarischem Rang.«
    Joachim Kaiser 1992 in der
Süddeutschen Zeitung
     
    Uwe Johnsons
Jahrestage
zählen längst zum Kanon der deutschen Nachkriegsliteratur.
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