Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entfesselt

Entfesselt

Titel: Entfesselt
Autoren: Cate Tiernan
Vom Netzwerk:
1
     
    Uppsala, Schweden, 1619
    »Vali! Vali! Wo bleibt das Mädchen?«
    Als ich die Stimme meines Arbeitgebers hörte, hetzte ich aus dem Keller wieder nach oben.
      »Hier!«, rief ich atemlos und stellte den schweren Kasten mit den Goldfäden auf den Tresen. Die Holztreppe, die in den Lagerraum unter dem Laden führte, war kaum mehr als eine Leiter.
      Ich hatte mir den Kasten unter den Arm geklemmt und mich mit der freien Hand festgehalten, um nicht kopfüber hinunterzustürzen. Mit der Zeit wurde ich so geschickt wie eine Bergziege, aber ich war erst einen Monat hier, und diese Stufen waren selbst für skandinavische Verhältnisse ungewöhnlich eng und steil. In Kombination mit den langen Röcken und Unterröcken jener Zeit war der Absturz beinahe vorprogrammiert.
      Mein Arbeitgeber, Meister Nils Svenson, lächelte seinem Kunden zu. »Vali ist neu hier und muss erst noch lernen, wo alles ist.«
      Ich deutete einen Knicks an und hielt den Blick gesenkt.
      »Sie macht sich aber schon sehr gut. Nicht wahr, Mädchen?« Meister Svenson nickte mir wohlwollend zu und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf den Mann, der sich unschlüssig war, ob große Rüschenkragen wirklich aus der Mode kamen oder nicht.
      Ich nahm einen Feder-Staubwedel und begann die Stoffballen abzustauben, die an zwei Wänden des Geschäfts lagerten. Mein Meister war einer der angesehensten Schneider von Uppsala und hatte stets die feinsten Stoffe vorrätig. Fein gewebte Wolle, die sich glatt anfühlte und in tiefen Edelsteintönen gefärbt war; weißes und farbiges Leinen in verschiedenen Qualitäten, von hauchfein bis hin zu den kräftigen Stoffen für Reithosen und Mieder; feine Seide aus dem Fernen Osten in schrillen Papageienfarben, die so exotisch waren, dass sie in diesem Land im November vollkommen fehl am Platz wirkten.
      Die Silberglocke über der Eingangstür klingelte und eine sehr elegante Dame trat herein. Ich erkannte sofort, dass die türkisfarbene Straußenfeder, die von ihrem Hut herunterhing, mehr gekostet hatte, als ich in sechs Monaten verdiente.
      »Da bist du, meine Liebe«, sagte der Mann und ergriff sanft ihre Hand, um ihr einen Kuss auf den Handschuh zu hauchen. »Entschuldige meine Verspätung.«
      »Ach, das macht doch nichts«, sagte die Frau geziert. »Beende in Ruhe deine Geschäfte.« Sie schien auf ihren feinen Lederschuhen förmlich durch den Laden zu schweben. Einen Moment später stand sie in meiner Nähe. Ich wedelte mit dem Federbüschel und versuchte, ihren wundervollen zartgrauen Umhang mit den aufgestickten schwarzen Blumen nicht zu offensichtlich anzustarren.
      »Was für ein exquisites Material«, murmelte sie und fuhr mit den Fingerspitzen über den pfirsichfarbenen Brokat, der durch die Silberstickerei schwer und steif war. Sie wandte sich an ihren Mann. »Schatz, du solltest dir wirklich eine Weste-«
      Ich weiß nicht, wieso sie mich in diesem Augenblick ansah, aber sie tat es. Ihre blauen Augen glitten gleichgültig über mich hinweg, doch plötzlich hielt sie inne. Mein Gesicht schien ihren Blick anzuziehen wie ein Magnet. Sie verstummte mitten im Satz, die Augen weit geöffnet. Ihre Hand krallte sich in den Brokat, als würde sie ohne diesen Halt umfallen.
      »Ja, Liebes?«, sagte ihr Mann.
      Sie ließ den Brokat los und lächelte etwas gequält. Dann drehte sie den beiden Männern graziös den Rücken zu und sah mir wieder ins Gesicht.
      »Du«, sagte sie so leise, dass die beiden es nicht hören konnten. »Ja, Madame?«, antwortete ich beunruhigt. Und dann - ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Es ist mir heute noch ein Rätsel. Ich weiß nicht, woran wir es erkennen oder was es ist. Aber unsere Blicke trafen sich und da wussten wir es. Mein Unterkiefer klappte herunter und ich hätte beinahe laut aufgejapst. Wir hatten einander als das erkannt, was wir waren: unsterblich. Seit fast fünfzig Jahren hatte ich keinen anderen Menschen getroffen, der so war wie ich – nicht in drei Ländern und acht Städten.
      »Wer bist du?«, flüsterte sie. »Mein Name ist Vali, Madame.«
      »Woher kommst du?«
      Die jahrzehntealte Lüge kam mir glatt über die Lippen. »Nóregr, Madame«, murmelte ich und hoffte nur, dass es in Norwegen tatsächlich Unsterbliche gab. Ich hatte jedenfalls keine getroffen während ich dort lebte.
      »Schatz?«, rief ihr Mann.
      Nach einem weiteren durchdringenden Blick wandte sich die Frau von mir ab und kehrte zu ihrem Ehemann
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher