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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johsohn
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der Name allein schon, werde auch in dieser Frage. Sah niedlich aus, wenn er bedauernd die Schultern hob in der Lederjacke und lächelte, ein wenig mit Schmerz. Hatte auf seine letzten zwei Zigaretten verzichtet.
    – War Nichtraucher.
    – Ja. Bezog Zigaretten stangenweise in der Marketenderei der Roten Armee.
    – Nun verlor er die Wahl.
    – Nun verlor er. In den Gemeindewahlen am 15. September bekamen L. D. P. D. und C. D. U. fast 25 vom Hundert der abgegebenen Stimmen. Seine Partei aber, zusammen mit der befreundeten Bauernhilfe und den Frauenausschüssen, wurde bloß mit 66 vom Hundert gewählt. Er war recht niedergeschlagen, ging dem Dreifachen J aus dem Weg. Bloß den ersten Abend machte das Trinken erträglich. So eindringlich er sich vorstellte, daß es eben ein Kampf gewesen war, er hatte ihn nun einmal nicht mit Übermacht gewonnen. Mehr als ein Viertel der Leute in Mecklenburg vertraute ihm nicht. Überdies hatte er die Freunde enttäuscht. Jetzt glaubte er das Gefühl der letzten Wochen zu erkennen: Angst vor dem Versagen, Ahnung der Niederlage. Ältere wären erleichtert gewesen, wenigstens über sich Bescheid zu wissen; ihm mit seinen dreiundzwanzig Jahren war kaum zu helfen.
    22. Juni, 1968 Sonnabend
    In České Budějovice gibt es einen Bischof, der war sechzehn Jahre lang außer Dienst, nämlich seiner Diözese verwiesen, unter Hausarrest. Am vorigen Sonntag durfte er wieder in seiner Kathedrale St. Nikolaus die Messe zelebrieren, in Anwesenheit dreier Behördenvertreter, die sich überaus höflich verhielten. Am Dienstag schon rief die Polizei ihn an, wegen eines Mannes, der beim Geldzählen an einem offenen Eisenbahnfenster eine große Summe verloren hatte. Ob die Gesetzeshüter den Unglücklichen nicht mal rüberbringen könnten, damit er vom Bischof jene Tröstung erfahre, die einem Polizeirevier nicht gegeben sei?
    Solche Bitte der Staatsmacht, die ihn (gleichfalls drei Mann hoch) im März 1952 deportierte, hält der Bischof von Böhmisch Budweis nun für das höchst herzerquickende Symbol seiner Zukunft in der Č. S. S. R.
    Im zweiten Herbst nach dem Krieg hatte Cresspahls Tochter aufgehört, Herrn Pastor Brüshaver die Tageszeit zu bieten. Sie entschlug sich der Mühe, wenigstens zu tun, als hätte sie den geistlichen Würdenträger übersehen. Sie sah ihn wohl, wem fiel er nicht auf. Er war nicht mager vom letztjährigen Hunger, die Lager der Nazis schienen ihn am ganzen Leibe umgebaut zu haben in eine Fassung von zierlicher Dürftigkeit, die Hosen und Jacken von 1937 schlotterten auch von seinen vorsichtigen, fast steifen Bewegungen. Diese Gesine verzichtete noch darauf, Brüshaver den Gruß ausdrücklich zu verweigern; obendrein zeigte sie, daß sie ihn erkannte, wie man vorbeigeht an etwas Gewohntem, das ist nicht mehr zu brauchen. Wie Brüshaver früher ausgekommen war ohne Stolz und Strenge, versuchte er es eine Weile mit Nicken, als Ältester zuerst! Dann sah er das Kind nur noch an, ohne Vorwurf, ohne rätselnde Miene; dem Kind gelang es obendrein, in solchem Blickwechsel überhaupt Bekanntschaft abzustreiten.
    Jakob erkannte es in der Regel bald, wenn Cresspahls Tochter sich Nücken in den Kopf gesetzt hatte; nur schaffte er es kaum, ihr die auszureden. Jakob war nicht zufrieden mit sich als Vorstand des Haushalts.
    Der Haushalt war klein geworden, drei Köpfe hatte er in der Volkszählung melden können, dazu für die Rubrik »ansässig, aber abwesend« Cresspahl, Heinrich. Die Sonntagsarbeit des N. K. W. D. im September hatte das ihre getan, mehr noch das Gerücht, das alle Spuren dem abgeholten Bürgermeister in die Schuhe legen wollte. Ende September waren alle Flüchtlinge ausgezogen, sogar die marienwerdersche Lehrerin, die lieber mit zwei anderen Familien weitab in der Försterei Wehrlich hausen und obendrein ihr Söhnchen selber versorgen wollte, als noch länger in der Nähe solcher gefährlichen Sowjetfeinde leben. Das Amt für Wohnraum besserte die Abgänge nicht auf, noch der neue Schub sudetendeutscher Aussiedler wurde von den mittlerweile eingesessenen Flüchtlingen Jerichows rechtzeitig gewarnt vor dem einsamen Haus am Ziegeleiweg, gerade gegenüber der Kommandantur, Ort unzähliger Haussuchungen, ganz verdorben für eine Zukunft. Wie in einem Spukhaus allein lebten Gesine in ihrer Kammer, in Cresspahls großer Stube Frau Abs, auf der anderen Seite des Flurs Jakob. Nach hinten benutzten sie nur die Küche und, gelegentlich, eine der Vorratskammern als
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