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Jagdsaison. Roman.

Jagdsaison. Roman.

Titel: Jagdsaison. Roman.
Autoren: Andrea Camilleri
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alten Marchese mit x. Einverstanden? Vier Monate später stirbt der Bruder der Marchesa an einer Pilzvergiftung. Acht Monate später folgt ihm die Marchesa Mutter, der Tod des Söhnchens hatte ihr das Herz gebrochen. Sechzehn Monate später segnet der Marchese bei einem Sturz das Zeitliche. Zweiunddreißig Monate später geben der Onkel, die Tante, die Dienstfrau, der Privatsekretär den Löffel ab. Und beinahe zum gleichen Zeitpunkt auch der zukünftige Bräutigam. Die Reihe ist also zwei, vier, acht, sechzehn, zweiunddreißig. Ja, haben Sie denn ein Brett vor dem Kopf?«
    »Wie bitte?«
    »Es fehlt nur der Anfang. Um den zu finden, muß man x minus 2 rechnen. Ich habe also gestern den ganzen Tag in der Kaserne darüber nachgedacht. Mit anderen Worten, was ist am 1. Januar geschehen, das heißt zwei Monate bevor der Marchese-Großvater Selbstmord beging?«
    »Ganz einfach«, sagte Fofò La Matina, »da bin ich nach vielen Jahren in der Ferne in Vigàta eingetroffen.«
    »Aber was haben Sie damit zu tun?« fragte der Oberleutnant wie vor den Kopf geschlagen. »Ich sehe da keine Verbindung.«
    »Die kann ich Ihnen zeigen. Die Sache mit den Zahlen war mir bisher nicht aufgefallen. Aber zuerst will ich Ihnen die Geschichte eines Jungen von knapp zehn Jahren erzählen. Er ist Sohn eines Bauern, der, auch wenn er Kräuter züchtet und in der Lage ist, alle Arten von Leiden zu heilen, auf immer ein Bauer bleibt; dieser Knabe soll den Herrschaften die Waren liefern, die sein Vater ihm mitgibt; er spaziert also durch die Straßen des Orts, hält den Kopf stets wie ein Hans-guck-in-die-Luft, um einen Blick auf die Mägdelein zu erhaschen, die an den großen Fenstern stehen. Doch eines Tages sieht er auf einem Balkon ein kleines Mädchen von sechs Jahren aus der vornehmsten und reichsten Familie der Gegend. Ihre Blicke verfangen sich. Wie angewurzelt bleibt er mitten auf der Straße stehen. Ihre Hand erstarrt in der Bewegung, mit der sie ihren Zopf in Ordnung bringen wollte. Innerhalb von einer Minute sind beide Mann und Frau geworden, und ihre Blicke sprechen die Sprache der Erwachsenen. Sie sehen sich noch zwei Minuten an, und in diesem winzigen Zeitraum lernen sie sich kennen, legen fest, daß sie füreinander geschaffen sind, heiraten und gemeinsam altern werden. Sie schließen einen Pakt. Und als sie die Blicke senken, ist dies Versprechen heilig geworden. Dann kommt der Vater der Kleinen und versetzt dem Jungen einen Tritt in den Hintern, und die Waren, die er in der Hand hielt, gehen am Boden zu Bruch. Wollen Sie eine Liebesgeschichte hören, die so anfängt?«
    »Ja. Das ist eine wirklich schöne Geschichte«, sagte der Oberleutnant, der ein entfernter Neffe von Vittorio Alfieri war und für solche Dinge ein Faible hatte.
    Fofò La Matina lehnte sich noch etwas enger an den Freund, nahm dessen Hand, die auf seiner Schulter lag, in die seinige, und vor Glückseligkeit überströmend, begann er mit seiner Geschichte.
     
    Es dunkelte schon, als er mit seinem Bericht am Ende war. Emiliano di Saint Vincent war beim Zuhören immer steifer und blasser geworden. Deutlich hob sich sein Gesicht in der Dunkelheit ab. Als Fofò das letzte Wort gesagt hatte, atmete der Oberleutnant tief durch.
    »Jesus!« stöhnte er und tat einen tiefen Zug aus der Weinflasche.
    Dann brauste er auf: »Warum haben Sie mir diese Geschichte erzählen wollen? Keiner hatte irgendeinen Verdacht, keiner sah eine Verbindung zwischen Ihnen und den Toten. Warum haben Sie das nur getan?«
    »Weil ich heute begriffen habe, daß ich der Sache müde bin. Viele Jahre lang habe ich mir in den Kopf gesetzt, etwas zu besitzen, und als ich es dann endlich hatte, merkte ich, daß es das alles gar nicht wert war.«
    »Was sagen Sie da bloß!«
    »Genau das, was ich gesagt habe; es war das alles nicht wert. Weder Ntontò noch irgendein anderes Weib auf der Welt. Das wurde mir am Morgen nach der Hochzeitsnacht klar. Schlummernd lag sie neben mir, ich blickte sie an und fragte mich im stillen: War sie das wert?«
    Er machte eine Pause und trank den allerletzten Schluck Wein. »Soll ich Ihnen etwas verraten?«
    »Wenn Sie schon einmal dabei sind«, sagte der Oberleutnant bedruckt.
    »Ein Weib unter sich haben, das ist nur ein schwacher Ersatz für eine gelungene Masturbation.«
    Fofò ahnte nicht, daß er mit dieser Maxime einem Österreicher namens Karl Kraus um viele Jahre zuvorgekommen war.
    »Da stimme ich Ihnen nicht zu«, entgegnete Emiliano di Saint Vincent und
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