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Ist Gott ein Mathematiker

Ist Gott ein Mathematiker

Titel: Ist Gott ein Mathematiker
Autoren: Mario Livio
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und fünfhundert gereimte Verszeilen umfassen. An einer Stelle klagt sie: «Ich muss euch nun von der schrecklichen und erbärmlichen Plackerei berichten, die das Einmaleins für mich bedeutet, ihr könnt es euch nicht vorstellen. Das Teuflischste ist 7 mal 7 und 8 mal 8, die Natur selbst hält so etwas nicht aus.»
    Einige der verzwickten Fragen, die ich Ihnen vorgestellt habe,lassen sich auch in anderer Form stellen: Gibt es irgendwelche grundlegenden Unterschiede zwischen der Mathematik und anderen Ausdrucksweisen des menschlichen Geistes wie der bildenden Kunst und der Musik? Falls nein, warum weist die Mathematik dann eine derart imposante Kohärenz und Schlüssigkeit auf, wie sie sich bei keiner anderen menschlichen Schöpfung zeigen? Euklids Geometrie zum Beispiel ist (da, wo sie gilt) heute noch genauso zutreffend wie im Jahr 300 v. Chr. Sie repräsentiert «Wahrheiten», die sich uns förmlich aufdrängen. Der Musik des antiken Griechenlands zu lauschen oder an den naiven Vorstellungen eines Aristoteles festzuhalten, sehen wir uns hingegen weit weniger veranlasst.
    Nur sehr wenige wissenschaftliche Fächer berufen sich heutzutage noch auf Ideen, die bis zu dreitausend Jahre alt sind. Die jüngste Forschung auf mathematischem Gebiet kann sich genauso gut auf Theoreme berufen, die wir im vergangenen Jahr oder letzte Woche publiziert haben, wie auf eine Formel zur Beschreibung der Kugeloberfläche, die Aristoteles um 250 v. Chr. bewiesen hat! Das Atommodell des 19. Jahrhunderts hat kaum zwei Jahrzehnte überlebt, weil neue Erkenntnisse bewiesen haben, dass Teile der Theorie auf Irrtümern fußten. So und nicht anders schreitet Wissenschaft fort. Newton würdigte (oder auch nicht! Siehe Kapitel 4) in Zusammenhang mit seinem großen Weitblick die Riesen, auf deren Schultern er gestanden hat. Er hätte sich auch bei den Riesen entschuldigen können, weil er deren Arbeit obsolet machte.
    In der Mathematik laufen die Dinge nicht nach diesem Muster. Auch wenn sich der zum Beweis gewisser Sachverhalte notwendige Formalismus geändert haben mag, so hat sich die Mathematik selbst doch nicht verändert. Ja, wie der Mathematiker und Autor Ian Stewart es einmal ausgedrückt hat: «In der Mathematik gibt es ein Wort für länger zurückliegende Ergebnisse, die später verändert wurden – man nennt sie schlicht und einfach
Fehler.»
Anders als in anderen Wissenschaften werden Fehler in der Mathematik nicht deshalb als Fehler bezeichnet, weil sich neue Befunde ergeben haben, sondern aufgrund einer sorgfältigeren und schlüssigeren Auseinandersetzung mit denselben alten mathematischen Weisheiten. Macht das die Mathematik tatsächlich zu Gottes ureigener Sprache?
    Wenn Sie glauben, es sei nicht so wichtig zu verstehen, ob die Mathematik erfunden oder entdeckt wird, dann überlegen Sie einmal, wie ideologisch befrachtet die Unterscheidung in Erfindung und Entdeckung bei einer anderen Frage ist: Ist Gott eine Entdeckung oder eine Erfindung? Oder, noch provokanter: Hat Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen? Oder haben die Menschen sich einen Gott nach ihrem Bild geschaffen?
    Ich will in diesem Buch versuchen, viele dieser spannenden Fragen (und noch eine ganze Reihe mehr) und die dazugehörigen nicht minder spannenden Antworten anzupacken. In diesem Prozess werden Erkenntnisse zur Sprache kommen, die die größten Mathematiker, Physiker, Philosophen, Kognitionswissenschaftler und Linguisten vergangener Jahrhunderte und unserer Zeit gewonnen haben. Auch will ich die Meinungen, Mahnungen und Vorbehalte vieler moderner Denker würdigen. Wir beginnen diese spannende Reise mit den bahnbrechenden Gedanken einiger der frühesten Philosophen.

Kapitel 2
MYSTIKER: DER NUMEROLOGE UND DER PHILOSOPH
    Menschen waren stets von dem Wunsch beseelt, den Kosmos zu verstehen. Ihr Streben, dem auf den Grund zu gehen, «was das alles zu bedeuten hat», überstieg um Längen alles, was sie zum bloßen Überleben, der Verbesserung ihrer ökonomischen Situation oder ihrer Lebensqualität leisten mussten. Das heißt nun nicht, dass sich jedermann ständig mit der Suche nach irgendeiner natürlichen oder metaphysischen Ordnung befasst hätte. Leute, die alle Hände voll zu tun haben, ihren Lebensunterhalt zu sichern, können sich nur selten den Luxus leisten, über den Sinn des Lebens nachzugrübeln. In der Galerie derer aber, die nach Gesetzmäßigkeiten und Mustern gefahndet haben, mit denen sich die offenkundige Komplexität des
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