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Ist Gott ein Mathematiker

Ist Gott ein Mathematiker

Titel: Ist Gott ein Mathematiker
Autoren: Mario Livio
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sichererem Terrain und als sei Zählen wirklich eine urtümliche Form des Erfassens.Aber lassen Sie uns einen Augenblick annehmen, Intelligenz hätte ihren Sitz nicht in der Menschheit, sondern in irgendeinem komplett isolierten, solitär lebenden Polypen in den tiefsten Tiefen des Pazifik genommen. Dieses Wesen hätte keinerlei Begegnungen mit einzelnen Gegenständen, sondern nur mit dem Wasser, von dem es umgeben ist. Seine sensorischen Erfahrungen bestünden aus Fließgeschwindigkeit, Temperatur und Druck. In einem solchen reinen Kontinuum stellt sich die Frage nach dem Diskreten nicht, und so gäbe es nichts zu zählen.
    Atiyah ist daher der Ansicht, dass der «Mensch die Mathematik durch die Idealisierung und das Abstrahieren von Elementen der physikalischen Welt
geschaffen
[Kursivierung von mir] hat». Der Linguist George Lakoff und der Psychologe Rafael Núñez sind derselben Ansicht. In ihrem Buch
Where Mathematics Comes From
(«Woher die Mathematik kommt») gelangen sie zu dem Schluss: «Mathematik ist ein natürlicher Bestandteil unseres Menschseins. Sie entspringt unserem Körper, unserem Gehirn und unseren Alltagserfahrungen in der Welt.»
    Der Standpunkt von Atiyah, Lakoff und Núñez wirft eine andere interessante Frage auf. Wenn die Mathematik wirklich eine durch und durch menschliche Erfindung ist, kann sie dann wahrhaft universal sein? Mit anderen Worten: Wenn es intelligente außerirdische Lebensformen gibt, würden diese dann dieselbe Mathematik erfinden? Carl Sagan (1934–1996) war davon überzeugt, dass die Antwort auf die letzte Frage Ja lauten müsste. In seinem Buch
Unser Kosmos
schreibt er bei der Diskussion der Frage, was für eine Art von Signalen eine intelligente Zivilisation ins All senden würde: «Es ist höchst unwahrscheinlich, daß bei einem natürlichen physikalischen Prozeß ausschließlich Primzahlen enthaltende Radiobotschaften ausgestrahlt werden sollten. Erhielten wir eine solche Botschaft, könnten wir daraus auf eine Zivilisation im All schließen, die zumindest eine gewisse Vorliebe für Primzahlen hegt.» Wie sicher aber ist das? In seinem 2002 erschienenen Buch
A New Kind of Science
(«Eine neue Art von Wissenschaft») vertritt der Mathematiker und Physiker Stephen Wolfram den Standpunkt, dass das, was wir als «unsere Mathematik» bezeichnen, durchaus nur eine Variante aus einer reichen Vielfalt an mathematischen «Geschmacksrichtungen» sein könnte. So könnten wir zum Beispiel, stattdie Natur mit Gesetzen zu beschreiben, die auf mathematischen Gleichungen basieren, ganz andere Gesetzmäßigkeiten heranziehen, denkbar wären solche, wie sie durch einfache Computerprogramme verkörpert werden. Darüber hinaus haben einige Kosmologen vor kurzem sogar die Möglichkeit erörtert, dass unser Universum nur ein kleines Rädchen in einem
Multiversum –
einer riesigen Menge von Universen – sein könnte. Sollte eine solche Vielfalt tatsächlich existieren – würden wir dann wirklich erwarten, dass in anderen Universen dieselbe Mathematik gälte wie in dem unseren?
    Molekularbiologen und Kognitionswissenschaftler bringen noch einen anderen Gesichtspunkt in die Diskussion, der sich auf die Untersuchung der Beschaffenheit unseres Gehirns gründet. Für einige dieser Forscher unterscheidet sich die Mathematik nicht allzu sehr von Sprache. Anders ausgedrückt: In diesem «kognitiven» Szenario hat sich im Laufe von Äonen, in denen Menschen zwei Hände, zwei Augen und zwei Brüste vor Augen hatten, eine abstrakte Definition der Zahl 2 herauskristallisiert, ziemlich genau so, wie das Wort «Vogel» irgendwann begonnen hat, für eine ganze Reihe von zweiflügligen, des Fliegens mächtigen Wesen zu stehen. Mit den Worten des französischen Neurowissenschaftlers Jean-Pierre Changeux: «Für mich ist die axiomatische Methode der klare Ausdruck von zerebralen Funktionen und von auf dem Gebrauch der Sprache beruhenden kognitiven Fähigkeiten des Menschen.» Wenn die Mathematik jedoch nichts weiter ist als eine weitere Sprache, wie lässt sich dann die Tatsache erklären, dass Kinder zwar Sprachen problemlos erlernen, in vielen Fällen aber nur schwer mit der Mathematik zurande kommen? Das schottische Wunderkind Marjory Fleming (1803–1811) beschrieb auf höchst charmante Weise die Schwierigkeiten, die ein Schüler mit der Mathematik haben kann. Dieses junge Mädchen, das seinen neunten Geburtstag nicht mehr erleben sollte, hinterließ Tagebücher, die mehr als neuntausend Worte Prosa
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