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Ismael

Ismael

Titel: Ismael
Autoren: Daniel Quinn
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nicht; keiner weiß etwas, das man nicht auch in den Regalen einer öffentlichen Bücherei finden kann. Aber das wußte ich damals noch nicht.
    Ich suchte also weiter, so blöd das heute auch klingt. Die Suche nach dem Gral wäre vergleichsweise sinnvoller gewesen; man stelle sich bloß vor, was der Gral an einem gutem Tag bei Sotheby hätte bringen können. Ich will nicht darüber reden, es ist mir peinlich. Ich suchte weiter, bis ich klüger war. Ich hörte auf, einen Narren aus mir zu machen, aber etwas in mir war tot - etwas, das ich irgendwie gern gehabt und bewundert hatte. Statt dessen war da jetzt eine Narbe - eine verhärtete Stelle, die aber zugleich auch empfindlich war.
    Und jetzt, Jahre, nachdem ich das Ganze aufgegeben hatte, suchte hier ein Scharlatan über eine Zeitungsanzeige genau jenen jungen Träumer, der ich vor fünfzehn Jahren gewesen war.
    Aber das erklärt eigentlich noch immer nicht meine Wut.
    Versuchen wir es damit: Du liebst jemanden seit zehn Jahren - jemanden, der gerade mal weiß, daß es dich gibt. Du hast alles getan und alles versucht, diesem Jemand zu zeigen, daß du eine nette Person bist, die man gern haben muß, und daß deine Liebe etwas wert ist. Dann schlägst du eines Tages die Zeitung auf und überfliegst die Kleinanzeigen, und auf einmal siehst du, daß die von dir geliebte Person eine Anzeige veröffentlicht hat, in der sie jemanden sucht, der es wert ist, von ihr geliebt zu werden.
    Ich weiß, es ist nicht genau dasselbe. Wie konnte ich erwarten, daß dieser unbekannte Lehrer sich ausgerechnet mit mir in Verbindung setzen würde, statt in einer Anzeige nach einem Schüler zu suchen? Und umgekehrt, wenn er ein Scharlatan war, wie ich vermutete, was hätte mir überhaupt daran liegen sollen, daß er sich mit mir in Verbindung setzte?
    Wie auch immer, mein Verhalten ließ sich nicht erklären. So was kommt vor.
    2
    Natürlich mußte ich hin, mußte ich mich vergewissern, daß wieder nur alles Schwindel war. Verständlich, oder? Eine halbe Minute würde genügen, ein einziger Blick, zehn Worte aus seinem Mund. Dann würde ich Bescheid wissen. Dann würde ich heimgehen und die Sache vergessen.
    Dort angekommen, stand ich zu meiner Überraschung vor einem ganz gewöhnlichen Bürogebäude, in dem zweitklassige Presseagenten, Anwälte, Zahnärzte, Reiseunternehmer, ein Chiropraktiker und ein oder zwei Privatdetektive ihre Praxen und Büros hatten. Ich hatte etwas mit mehr Atmosphäre erwartet - zum Beispiel ein Haus aus braunem Sandstein mit holzgetäfelten Wänden, hohen Decken und heruntergelassenen Jalousien. Ich suchte nach Suite Nr. 105 (obwohl davon in der Anzeige offen gesagt nicht die Rede gewesen war). Ich fand den Eingang auf der Rückseite des Hauses, wo die Fenster auf eine enge Gasse gingen. An der Tür stand nichts. Ich öffnete sie und betrat einen leeren Raum. Er war ungewöhnlich groß, weil man einige Zwischenwände herausgenommen hatte, deren Spuren noch auf dem nackten Holzfußboden zu sehen waren.
    Das war mein erster Eindruck: Leere. Der zweite betraf den Geruch. Der Raum roch nach Zirkus, nein, nicht nach Zirkus, sondern nach Menagerie, unmißverständlich, aber nicht unangenehm. Ich sah mich um. Das Zimmer war nicht vollständig leer. An der Wand links befand sich ein kleines Bücherregal mit dreißig bis vierzig Büchern, die meisten über Geschichte, Frühgeschichte und Anthropologie. In der Mitte stand einsam ein Polstersessel, der Wand rechts zugewandt, wie ein Überbleibsel, das beim Umzug zurückgelassen worden war. Der Sessel war zweifellos für den Meister reserviert. Die Schüler würden im Halbkreis vor ihm auf Matten knien oder liegen.
    Und wo waren die Schüler, die zu Hunderten kommen würden, wie ich prophezeit hatte? Waren sie vielleicht schon dagewesen und wie die Kinder von Hameln entführt worden? Die unberührte Staubschicht auf dem Boden sprach dagegen.
    Irgend etwas an dem Raum war seltsam, aber ich mußte mich noch einmal umsehen, ehe ich draufkam, was es war. Die der Tür gegenüberliegende Wand wurde von zwei hohen Flügelfenstern unterteilt, durch die schwaches Licht von der Gasse hereindrang. Die Wand links, an die das benachbarte Büro grenzte,
    war fensterlos. In die Wand rechts war ein einzelnes Spiegelglasfenster eingelassen, das ganz offensichtlich nicht nach draußen führte, da es überhaupt kein Licht hereinließ. Es war ein Fenster in ein angrenzendes Zimmer, das noch dunkler war als der Raum, in dem ich stand. Ich
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