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Ismael

Ismael

Titel: Ismael
Autoren: Daniel Quinn
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überlegte, welche Reliquie dort wohl der Berührung neugieriger Hände entzogen war. Vielleicht ein einbalsamierter Yeti oder ein Schneemensch aus Katzenfell und Pappmache? Oder die Leiche eines Ufonauten, den ein Milizionär der Nationalgarde erschlagen hatte, bevor er seine erhabene Botschaft von den Sternen verkünden konnte (»Wir sind Brüder. Tut mir nichts.«)?
    Da es hinter dem Fenster dunkel war, erschien das Glas der Scheibe schwarz, opak und reflektierend. Ich trat näher, versuchte aber nicht hindurchzusehen; schließlich war ich wahrscheinlich derjenige, der beobachtet wurde. Als ich vor der Scheibe stand, starrte ich einen Augenblick lang in meine eigenen Augen, dann sah ich durch die Scheibe - in ein anderes Augenpaar.
    Erschrocken trat ich einen Schritt zurück. Dann, als mir bewußt wurde, was ich gesehen hatte, trat ich noch einen Schritt zurück, diesmal vor Angst.
    Das Wesen auf der anderen Seite der Scheibe war ein ausgewachsener Gorilla.
    »Ausgewachsen« sagt natürlich gar nichts. Er war ein ungeheurer Koloß, wie ein Felsen oder ein gigantischer Steinblock aus Stonehenge. Schon durch seine bloße Masse wirkte er bedrohlich, obwohl er keinerlei drohende Gebärden machte. Ganz im Gegenteil: Friedlich zurückgelehnt saß er da und knabberte graziös an einem schlanken Zweig, den er in der Linken hielt wie einen Zauberstab.
    Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Man kann sich vorstellen, wie durcheinander ich war: Ich hatte das Gefühl, ich müsse etwas sagen - mich entschuldigen, meine Anwesenheit erklären, mein Eindringen rechtfertigen, das Tier um Verzeihung bitten. Ich empfand es als Kränkung, ihm einfach in die Augen zu starren, aber ich war wie gelähmt, hilflos. Ich konnte immer nur sein Gesicht anstarren, das häßlicher ist als alle anderen Gesichter im Königreich der Tiere, weil es unserem so ähnelt, und zugleich auf seine Weise vornehmer als jedes griechische Schönheitsideal.
    Die Glasscheibe war für mich in Wahrheit kein Schutz, denn sie hätte unter seiner Berührung nachgegeben wie Seidenpapier. Aber er schien nicht entfernt daran zu denken, sie zu berühren. Er saß nur da, starrte mir in die Augen, knabberte an seinem Zweig und wartete. Nein, er wartete nicht, er war nur da, wie er dagewesen war, bevor ich kam, und wie er dasein würde, wenn ich wieder weg war. Ich hatte das Gefühl, daß ich ihm nicht mehr bedeutete als dem auf einem Hügel rastenden Schäfer eine vorüberziehende Wolke.
    Meine Angst verebbte, und das Bewußtsein für meine Lage kehrte zurück. Ich sagte mir, daß der Lehrer offenbar nicht anwesend war, daß mich also nichts hielt, und daß ich am besten wieder nach Hause ging. Aber ich wollte nicht mit dem Gefühl gehen, umsonst gekommen zu sein. Ich sah mich also nach Papier um, in der Absicht, eine Nachricht zu hinterlassen, aber ich fand keines. Immerhin machte mich die Suche auf etwas aufmerksam, das ich bisher übersehen hatte. In dem Raum auf der anderen Seite der Scheibe hing an der Wand hinter dem Gorilla ein Schild oder ein Plakat. Auf ihm stand:
    Gibt es
ohne den Menschen
Hoffnung
für den Gorilla?
    Dieses Plakat oder vielmehr der Text ließ mich innehalten. Worte sind mein Beruf. Ich las sie also noch einmal, in der Erwartung, daß sie sich von selbst erklären würden, daß sie aufhören würden, zweideutig zu sein. Lag die Hoffnung der Gorillas im Aussterben oder im Überleben des Menschen? Denn der Text ließ sich auf beide Weisen verstehen.
    Natürlich handelte es sich um ein Koan - einen Spruch, der gar nicht verstanden werden sollte. Genau deshalb mochte ich ihn nicht, und noch aus einem anderen Grund: Ich hatte den Eindruck, als habe man das faszinierende Geschöpf nur deshalb hinter der Scheibe eingesperrt, damit es als eine Art lebendiger Illustration des Koan dienen konnte.
    Du solltest wirklich etwas tun, sagte ich mir ärgerlich. Dann fügte ich hinzu: Am besten setzt du dich hin und bist still.
    Ich lauschte dem Echo dieser seltsamen Aufforderung nach, als ob es sich um ein paar Takte Musik handelte, die ich nicht zuordnen konnte. Nachdenklich sah ich den Sessel an: War es tatsächlich am besten, wenn ich mich hinsetzte und still war? Und wenn ja, warum? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Weil du, wenn du still bist, besser hören kannst. Ja, dachte ich, das stimmt zweifellos.
    Ohne bewußten Grund hob ich die Augen und erwiderte den Blick meines Gegenübers aus dem Tierreich. Wie jedermann weiß, können Augen
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