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Ismael

Ismael

Titel: Ismael
Autoren: Daniel Quinn
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vor dem Wagen gespannten Seil blieb er stehen, pflanzte seinen Spazierstock in den Dreck und sah mir aufmerksam in die Augen. Der Blick eines Menschen bringt mich nicht aus der Fassung, deshalb erwiderte ich seinen ruhig. Ich saß, er stand, und so verharrten wir einige Minuten bewegungslos. Ich weiß noch, daß ich eine ungewöhnliche Bewunderung für diesen Mann empfand, der trotz des Nieselregens mit stoischer Ruhe vor meinem Käfig ausharrte.
    Schließlich straffte er sich und nickte mir zu, als sei er zu einem sorgfältig durchdachten Schluß gekommen.
    »Du bist nicht Goliath«, sagte er.
    Daraufhin machte er kehrt und marschierte den Weg zurück, den er gekommen war, ohne nach rechts oder links zu blicken.
    4
    Du kannst dir vorstellen, daß ich wie vom Donner gerührt war. Nicht Goliath? Was um Himmels willen konnte es bedeuten, nicht Goliath zu sein?
    Ich sagte nicht einfach: »Gut, wenn ich nicht Goliath bin, wer bin ich dann?« Ein Mensch hätte das gefragt, er hätte gewußt, daß er jemand ist, egal, wie er heißt. Ich fragte es nicht. Im Gegenteil, mir schien, wenn ich nicht Goliath war, dann war ich überhaupt niemand.
    Obwohl jener Fremde mich vor diesem Tag nie gesehen hatte, zweifelte ich keinen Augenblick an der Richtigkeit seiner Worte. Tausend andere hatten mich Goliath genannt - sogar die, die mich gut kannten, wie die Arbeiter der Menagerie -, aber das war etwas anderes, das zählte nicht. Der Fremde hatte nicht gesagt: »Du heißt nicht Goliath«, er hatte gesagt: »Du bist nicht Goliath«. Dazwischen lagen Welten. Es kam mir vor - obwohl ich es damals noch nicht so hätte ausdrücken können -, als hätte er mein Bewußtsein meiner selbst für eine Täuschung erklärt. Du erinnerst dich: Ich habe vorhin gesagt, daß ich erst in der Wahrnehmung meiner selbst als Goliath als Person geboren wurde , daß ich mich erst dann als jemand zu sehen begann. Wenn ich jetzt aber nicht Goliath war, dann ... dann konnte ich nur niemand sein.
    Ich verfiel in eine Art halbwachen Dämmerzustand. Ein Wärter kam mit dem Fressen, aber ich ignorierte ihn. Die Nacht brach an, aber ich schlief nicht. Es hörte auf zu regnen, und die Sonne ging auf, ohne daß ich es bemerkte. Bald hatten sich die üblichen Massen versammelt und riefen »Goliath! Goliath!«, aber ich beachtete sie nicht.
    So vergingen einige Tage. Dann, eines Abends, die Menagerie hatte für diesen Tag bereits geschlossen, trank ich ausgiebig aus meiner Schale und schlief bald darauf ein: Jemand hatte mir ein starkes Schlafmittel ins Wasser geschüttet. Als es dämmerte, er wachte ich in einem Käfig, den ich nicht kannte. Zuerst merkte ich gar nicht, daß es ein Käfig war, so groß war er und so seltsam geformt: rund und auf allen Seiten offen. Wie ich erst später begriff, hatte man einen Gartenpavillon zum Käfig umgebaut. Abgesehen von einem großen weißen Haus in der Nähe, stand er allein mitten in einem schönen Park, der sich, so stellte ich mir vor, bis ans Ende der Welt erstreckte.
    Es dauerte nicht lange, und ich hatte eine Erklärung für den seltsamen Ortswechsel gefunden: Die Menschen, die die Menagerie besuchten, kamen zumindest teilweise in der Erwartung, einen Gorilla namens Goliath zu sehen; woher sie diese Erwartung hatten, entzog sich meinem Wissen, aber daß sie sie hatten, war deutlich genug. Als der Besitzer der Menagerie dann erfuhr, daß ich gar nicht Goliath war, konnte er mich natürlich nicht mehr als Goliath ausstellen und hatte deshalb keine andere Wahl, als mich wegzuschicken. Ich wußte nicht, ob ich darüber traurig sein sollte oder nicht. Mein neues Heim war zwar viel schöner als alles, was ich seit meinem Weggang aus Afrika gesehen hatte, aber ohne die tägliche Abwechslung durch die Besuchermassen würde die Langeweile bald noch unerträglicher sein als im Zoo, wo ich wenigstens die Gesellschaft anderer Gorillas gehabt hatte. Ich grübelte noch über dieses Problem nach, als ich aufsah und bemerkte, daß ich nicht allein war. Dicht vor dem Gitter stand ein Mann, dessen Silhouette sich schwarz gegen das sonnenbeschienene Haus in der Ferne abhob. Ich näherte mich ihm vorsichtig, und zu meinem Erstaunen kannte ich ihn.
    Gleichsam in Wiederholung unserer früheren Begegnung starrten wir einander wortlos einige Minuten in die Augen. Ich saß auf dem Boden meines Käfigs, er stützte sich auf seinen Spazierstock. Er trug trockene und frische Kleider, und ich sah jetzt, daß er nicht der ältere Herr war, für den ich
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